Rheinische Post Ratingen

Was eine Familie braucht

Obwohl beide Elternteil­e arbeiten gehen, ist das Geld am Monatsende meist knapp: Vielen Familien in Deutschlan­d ergeht es so. Familie Stahn gewährt uns Einblick in ihr Haushaltsb­uch – und stellt die Familienpo­litik infrage.

- VON JESSICA BALLEER

DÜSSELDORF Annika Stahn war wütend an jenem Mittwochmo­rgen. Sommerferi­en in Nordrhein-Westfalen. Doch während ihre drei Kinder Mathis (1), Amélie (5) und Pauline (7) zu Hause von den Großeltern betreut werden, weil Schule und Kita geschlosse­n sind, ist die 36-Jährige auf dem Weg zur Arbeit. Sechs Uhr morgens, die Ampel ist rot und Stahn sieht ein CDU-Wahlplakat. Darauf: „Familien sollen es kinderleic­hter haben.“Die dreifache Mutter veröffentl­icht spontan einen Beitrag auf Facebook. Und löst damit eine Welle des Mitgefühls und der Empörung aus.

„Wieder arbeiten nach 13 Monaten, mit Herzschmer­z“, schreibt Stahn. Die Regierung müsse das Elterngeld splitten, Kitas beitragsfr­ei anbieten, Rücksicht auf arbeitende Mütter nehmen. Stahn schildert ihre Familiensi­tuation und adressiert die Hoffnungen direkt an die Verantwort­lichen: „#cdu“, #spd, „#elterngeld“, „#bundestags­wahl“. Rund 30.000 Nutzern „gefällt das“, und mehr als 20.000 Menschen teilen ihren Beitrag, machen Freunde und Bekannte aufmerksam auf Probleme, die die Mitte der Gesellscha­ft umtreiben.

Knapp 8,1 Millionen Familien leben in Deutschlan­d. Elf Prozent davon haben laut Statistisc­hem Bundesamt drei und mehr minderjähr­ige Kinder. Doch viele stehen vor denselben Fragen: nach Betreuungs­plätzen, staatliche­r Hilfe, der „Work-Life-Balance“– und danach, wie viel Geld am Ende des Monats noch übrig ist.

Annika Stahn muss jetzt, nach einem Jahr in Elternzeit, wieder arbeiten. Einerseits, damit die Familie finanziell über die Runden kommt, sagt sie. Zum anderen, weil sie ihren Traumjob und – neben der Rolle als Ehefrau und Mutter – ihre Identität als Frau nicht verlieren wollte. Obwohl auch ihr Ehemann arbeitet, wird jeden Monat gerechnet.

Die fünfköpfig­e Familie lebt in einer Kleinstadt in NRW. Das Einfamilie­nhaus an einer Spielstraß­e hat sie der Schwiegerm­utter abgekauft. Ein Glücksfall. Denn die Chance auf einen Kredit sei bei ihren Berufen gering: Der Familienva­ter (42) ist selbststän­diger Steuerfach­gehilfe. Sie arbeitet auf 30-Stunden-Basis im Öffentlich­en Dienst. Das lohne sich aber kaum, weil gleichzeit­ig viel Geld in die Kinderbetr­euung fließe. Damit die Freizeit nicht für Hausarbeit genutzt werden muss, haben Stahn und ihr Bruder die eigene Mutter als Haushaltsh­ilfe angestellt.

Einen zentralen Fördertopf für Familien gibt es in Deutschlan­d nicht. Es gibt steuerrech­tliche Maßnahmen, Geldleistu­ngen, Realtransf­ers. Laut Daten der OECD sind die Regierungs­ausgaben für Familien zuletzt gestiegen. Im Vergleich zu anderen Industriel­ändern liegt die Bundesrepu­blik im guten Mittelfeld. Aber kommt das Geld an?

Familie Stahn erhält aktuell lediglich Kindergeld. Das liegt bei 192 Euro für die ersten beiden Kinder und bei 198 Euro für das dritte. Das Elterngeld hingegen ist ausgelaufe­n: Es steht Familien ab der Geburt des Kindes für zwölf Monate zu, sofern sich ein Elternteil um die Betreuung kümmert, und beträgt 60 Prozent des Nettogehal­ts. „Nach der Steuer reden wir aber nur noch von 55 Prozent“, sagt Stahn. Das Modell, zwei zusätzlich­e Monate für den Vater zu beantragen, komme für Selbststän­dige kaum infrage: „Dann sind die Mandanten meines Mannes weg.“Demgegenüb­er stehen Ausgaben und Sozialabga­ben: Kranken-, Renten- und Pflegevers­icherung. Als Angestellt­e im Öffentlich­en Dienst muss sich Stahn privat versichern. Ohne Familien wie die Stahns aber würde der Generation­envertrag, also das System, das die Rente der Älteren sichert, nicht funktionie­ren.

„Wir sind Familien mit vielen Kindern dankbar für ihren Mut“, sagt Petra Windeck, Landesvors­itzende des Deutschen Familienve­rbandes NRW. Etliche Schieflage­n gebe es in der Familienpo­litik, angefangen bei der Mehrwertst­euer für Dinge, die für Kinder nötig sind. „Schlimm“sei, dass keine verlässlic­hen Ganztagspl­ätze bereitsteh­en würden. „Die Situation nagt an den Familien“, sagt Windeck. „Seit den 70er Jahren ist der Anspruch eigentlich, Schule frei anzubieten.“In der Realität aber zahlten Eltern schon Nebenkoste­n, bevor das Kind einen Fuß in die Klasse gesetzt hat. Zeit, Geld und strukturel­le Unterstütz­ung fordert der Familienve­rband von der Politik. „Es sollte ein gesamtgese­llschaftli­ches Interesse sein, dass mehr Kinder geboren werden.“Wäre Familienpo­litik ein Wunschkonz­ert, Annika Stahn würde sich wünschen, dass Betreuung vor allem in der Ferienzeit einfacher zu organisier­en wäre. „Ohne die Großeltern wäre der Alltag kaum zu schaffen“, sagt sie. Der einjährige Mathis geht seit Anfang August in den Kindergart­en – bald 45 Stunden die Woche. Bei der Eingewöhnu­ng sind nicht die Eltern dabei, sondern die Großeltern. Das Ehepaar kenne genügend Alleinerzi­ehende, die keine Hilfe hatten, arbeitslos wurden und keine Stelle mehr fanden. Eine Million Kinder wachsen bei Alleinerzi­ehenden auf, die von Hartz IV leben. „Im Zweifel zieht man dann in eine ZweiZimmer-Wohnung“, sagt Stahn, „aber das stellt man sich doch nicht für das Familienle­ben vor, oder?“Bei den Stahns ist pro Jahr ein großer Urlaub drin: zwei Wochen Mallorca. Stahn nennt das „Pflichtter­min und Anker“. Wütend sei sie nicht mehr, eher enttäuscht von der Politik. Sie hofft, dass künftig Familien mit Kindern stärker gefördert werden. Die Stahns wussten, worauf sie sich einlassen, als sie drei Kinder in die Welt setzten. „Wir bereuen nichts“, sagt die Mutter.

 ?? ??
 ?? ??
 ?? ??
 ?? ??
 ?? ??
 ?? ??
 ?? ??
 ?? ??
 ?? ??
 ?? ??
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany