Abgrund
Sie hatte nicht das Gefühl, dass hier irgendjemand für Mitleidsbekundungen und Durchhalteparolen empfänglich war. Was in Davids hübschem Kopf vor sich ging, konnte sie nur erahnen. Er hatte sich zwar das Blut aus dem Gesicht gewischt, und seine Sachen waren getrocknet, er sah aber immer noch fürchterlich aus mit seinen tief in ihren Höhlen liegenden Augen, die jeden wütend anfunkelten, der versuchte, Blickkontakt mit ihm aufzunehmen. Auch in Liekes Gesicht hatte der Nachmittag Spuren hinterlassen. Aber sie kümmerte sich rührend um David, hielt seinen Arm und wich kaum von seiner Seite. Sie flüsterten miteinander, und er legte seinen Kopf an ihre Schulter.
Das Essen schien allen gutzutun, denn danach hellte sich die Stimmung auf. Oder war es der steigende Alkoholpegel? Auf ihren beiden Tischen standen mittlerweile so viele Bierbüchsen, dass Anne sich fragte, wie die Wirtin den Überblick behielt.
„Ahh“, machte Salvatore und rieb sich zufrieden den Bauch, den er mit heißer Encebollado gefüllt hatte. „Es geht doch nichts über ein gutes Essen.“Er prostete der Wirtin zu, die am Nachbartisch kassierte, und sie quittierte es mit einem Lächeln. „Also, ich weiß ja nicht, wie es euch geht, Leute.“Salvatore blickte in die Runde, hob die Augenbrauen, schüttelte etwas beschämt den Kopf und grinste dann. „Um ehrlich zu sein, geben wir hier gerade ein ziemlich trauriges Bild ab. Es ist ja auch denkbar beschissen gelaufen, aber . . .“, er bückte sich und beförderte aus seinem Rucksack eines der Flugblätter zutage, „. . . ein paar habe ich gerettet, und ich stehe nach wie vor dazu. Hundertprozentig. Ich habe jedenfalls nicht vor, mir das, was heute geschehen ist, gefallen zu lassen. Ich weiß nicht, wie, aber – findet ihr nicht? – das kann’s nicht gewesen sein, oder? Irgendwie müssen wir’s denen doch heimzahlen.“
„Genau. Er hat recht.“Der Ecuadorianer, der an Davids Seite in die Auseinandersetzungen mit den Bootsführern verwickelt gewesen war, hob sein Bierglas. „Viva Salvatore!“, rief er. „Viva Galápagos!“In den Gesichtern löste sich langsam die Spannung. Die jungen Leute prosteten sich zu und tranken, und der allgemeine Schulterschluss entlockte sogar David ein Lächeln. Isabelle stand auf, lief um den Tisch, nahm Salvatores kurz geschorenen Kopf zwischen beide Hände und drückte ihm unter dem Beifall der anderen schmatzende Küsse auf Stirn und Wangen. Der Italiener lachte und verzog das Gesicht. Die Runde johlte so laut, dass die Gäste an den Nachbartischen sich nach ihnen umdrehten. Doch ihre Blicke waren nicht böse. Sie lachten. An diesem Tag durften alle ein wenig über die Stränge schlagen.
Anne schmunzelte, erleichtert über den unerwarteten Stimmungsumschwung, in sich hinein. Wem wollt ihr es denn heimzahlen?, dachte sie. Der Polizei? Den Menschen in Puerto Ayora? Den Touristen?
Als die Gruppe sich schließlich auf den Heimweg in die Station machte, war es längst dunkel geworden. Keinem von ihnen stand der Sinn noch nach abendlicher Unterhaltung. Sie waren müde und wollten nach Hause in ihre vier schroffen Wände aus Vulkanstein.
Doch die Stadt schien jetzt erst richtig zum Leben zu erwachen. Die Restaurants und Bars waren voller Gäste, Musik schallte auf die Straße, Congarhythmen, Trompeten und die internationalen Hits der Saison. Es roch nach Holzkohle und gegrilltem Fisch. Bewohner und Gäste Puerto Ayoras feierten sich und das Leben auf dem Äquator, heute erst recht. An den armen George dachte niemand mehr.
Fünfzehn Minuten nach ihrem Aufbruch kamen Anne und die Wissenschaftler an dem kleinen Fischmarkt vorbei, um diese Zeit ein Engpass, weil nicht nur der Markt Besucher anzog, sondern auf der anderen Straßenseite auch noch eine beliebte Bar und Restaurants lagen. Heute war es besonders voll. Intensiver Essensgeruch stieg aus den Pfannen und Töpfen der Frauen auf, die jetzt auf den Betontischen kochten, auf denen ihre Männer tagsüber die Fische feilboten. Dicht an dicht standen die Menschen und versperrten einen Großteil der Straße, viele hatten Bierflaschen und Cocktailgläser in der Hand. Ein polyglottes Gemurmel lag über der Menge und vermischte sich mit der aus der Bar schallenden Musik. Die Seelöwen, die es tagsüber auf die Abfälle der Fischer abgesehen hatten, waren den abendlichen Trubel gewohnt und schliefen jetzt dicht nebeneinander auf der hinteren Sitzbank eines Schiffes. Auf der Kaimauer vor der nach ihnen benannten Bucht putzten Pelikane ihr Gefieder.
Wo die Rangeleien ihren Ausgang nahmen, wer provoziert oder geschubst hatte, wer wen zuerst erkannte, konnte später niemand sagen, und auch Anne wusste es nicht. Sie mussten da durch, und so schoben sie sich, müde und abgekämpft, wie sie waren, im Gänsemarsch voran, und Anne merkte zunächst nur, wie sich nach einigen Metern etwas veränderte, wie Bewegung in die Menge kam und die Menschen noch dichter zusammengedrängt wurden. Anne hörte aus dem Stimmengewirr einzelne Schreie heraus, spanische Worte, die sie nicht verstand, die im Ton aber nicht zur herrschenden Partystimmung passten. Wieder schien David im Zentrum zu stehen. Vielleicht kam es ihr auch nur so vor, weil sein Kopf aus der Menge ragte, daneben Liekes blonder Schopf. Vor ihnen hatten sich in einem Halbkreis mehrere Männer aufgebaut, die sie beschimpften und mit jeder Sekunde wütender zu werden schienen. Isabelle, Carol und Salvatore versuchten, zu den anderen zu gelangen, etliche Menschen wollten sich aber nun aus dem Getümmel entfernen und kamen ihnen entgegen.
Auch Anne versuchte aufzuschließen, doch plötzlich wurden die Schreie lauter, und im nächsten Moment sah sie in der Menge die Helme mehrerer Polizisten, die ebenfalls zu den Streitenden vorzudringen versuchten. Sie schoben sich zwischen die Fronten und drängten die Menschen auseinander, was manchen der Einheimischen nicht zu gefallen schien, denn es hagelte wütende Proteste. Anne erkannte den riesigen Fischer mit dem markanten Gesicht, der ihr schon bei früheren Gelegenheiten aufgefallen war. Er stand ein wenig abseits und beobachtete mit Adleraugen, was geschah.
Anne spürte plötzlich eine Hand, die ihren Arm ergriff und sie aus dem Tumult zu ziehen versuchte. (Fortsetzung folgt)