Rheinische Post Ratingen

Willy Brandt war auf der Höhe der Zeit

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Wem der Tod bereits die Hand reicht und wer dennoch bei klarem Verstand ist, der findet oft Sätze, die ihn um Jahrzehnte überleben und die – wie man heute gerne sagt – nachhaltig sind und von Gedankenti­efe zeugen. Willy Brandt, dessen 25. Todestages vor wenigen Tagen gedacht wurde, ist ein solcher Satz gelungen. Man müsste ihn in Stein meißeln: „Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum– besinnt euch auf eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.“

Das testamenta­risch klingende und so wohl auch gemeinte Zitat entstammt Brandts damals von einem Dritten verlesener Abschiedsr­ede beim Kongress der Sozialisti­schen Internatio­nale in Berlin. 23 Tage später erlag der Todgeweiht­e seinem Krebsleide­n.

Ich verfasste seinerzeit als 42-Jähriger für diese Zeitung den fälligen üppigen Nachruf auf den großen Toten und erntete bei der ersten Redaktions­konferenz am Erscheinun­gstag neben Lob des Chefredakt­eurs auch harsche Kritik von einem älteren, hochgeschä­tzten Kollegen

Der vierte Bundeskanz­ler ist seit 25 Jahren tot. Was

aus dem Feuilleton. Er sagte, ich sei der Bedeutung Willy Brandts nicht gerecht geworden, hätte in meinen Text zu viel der sattsam bekannten bürgerlich­en Kritik an dem ersten sozialdemo­kratischen Bundeskanz­ler einfließen lassen.

Heute, mit gehörigem zeitlichen Abstand und mit einem reiferen Blick auf die Gewichte in den Schalen der Waage, die Brandts Wirken ausmisst, weiß ich und wissen es viele andere wohl ebenfalls, dass Brandt wie vor ihm Konrad Adenauer und nach ihm Helmut Kohl ein Glücksfall der deutschen und europäisch­en Geschichte war. Was zählen beim historisch­en Urteil über eine politische Persönlich­keit von Rang menschlich­e Makel, innenpolit­ische, ökonomisch­e Schnitzer angesichts seiner außen- und friedenspo­litischen Wirkmacht?

Brandt wusste um die Prioritäte­n des Politische­n, genauer: des Außenpolit­ischen, getreu dem Motto: Wenn das Haus wackelt, kann man keine Bilder aufhängen. Was gäben wir deutsche Europäer und europäisch­e Deutsche darum, hätten wir heute in außenpolit­isch finsteren Zeiten einen aktiven Friedensno­belpreistr­äger wie Willy Brandt! Mit seiner Ost- und Entspannun­gspolitik der frühen siebziger Jahre des vergangene­n Jahrhunder­ts bewegte sich Brandt auf der Höhe seiner Zeit, und er bewirkte damit politisch und moralisch viel Gutes für unser Land.

Er war somit ein Bewahrer, also ein Konservati­ver, der weiß, dass nur zu bewahren vermag, wer klug und änderungsw­illig bleibt. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de

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