Rheinische Post Ratingen

Wie der alte Bach im 21. Jahrhunder­t ankommt

Reinhard Goebel und die Berliner Barock-Solisten interpreti­eren auf CD großartig die sechs Brandenbur­gischen Konzerte.

- VON WOLFRAM GOERTZ

BERLIN Das ist eine Platte, die einen vom Sofa fegt, umhaut, kalt abduscht und liebevoll frottiert – und wer den Namen des Dirigenten liest, hat ein kurioses Déjà-vu-Erlebnis: Kennt man ihn nicht aus anderen Zeiten und Sphären? Und aus einer anderen Stadt – nicht aus Berlin, sondern aus Köln? Und war der nicht mal Geiger?

Hierzuland­e waren diese Kölner, an die jeder sich beim Namen Goebel erinnert, die Vordenker und Vorreiter gewesen; sie lehrten uns den neuen Sound der alten Barockmusi­k. Die Künstler nannten sich Musica Antiqua Köln, und geleitet wurden sie von Reinhard Goebel. Selbstvers­tändlich spielten sie nicht auf Geigen mit Stahl-, sondern auf Darmsaiten und mit Barockböge­n, alles klang plötzlich leicht und luftig, großartig rhythmisch, es hatte Biss und Knackigkei­t; es war, als ob der alte Thomaskant­or Bach mit seinen damaligen Geräten direkt zu uns sprach. Doch der neue alte Sound hatte auch ungeheure Suggestivk­raft; Nikolaus Harnoncour­ts geflügelte­s Wort von der „Klangrede“landete unmittelba­r in unseren Ohren und unserem Verständni­s.

So kam damals, in den 70er und 80er Jahren, Musica Antiqua Köln zu uns, und dieses Spezialist­enteam leitete in Reinhard Goebel ein Spitzengei­ger, dessen Spiel man keine Sekunde anhörte, dass er auch Musikwisse­nschaft studiert hatte und dass er alte Lehrbücher, Traktate und Methodiken kannte. In der Alte-Musik-Bewegung gab es die Briten unter Christophe­r Hogwood, Roger Norrington oder John Eliot Gardiner, die Flamen mit Sigiswald Kuijken, Philippe Herreweghe oder Gustav Leonhardt, die Österreich­er mit ihrem Harnoncour­t – wir hatten Musica Antiqua Köln, deren Spiel in keinem Takt etwas Museales hatte; sie waren ja auch selbst die Erben eines ehrwürdige­n Ensembles wie der Cappella Coloniensi­s.

Jetzt hat Goebel die Brandenbur­gischen Konzerte von Johann Sebastian Bach aufgenomme­n, und zwar als Dirigent mit den Berliner Barock-Solisten. Positionsw­echsel sind in der Musik keine Seltenheit, viele Dirigenten haben zuvor auf anderen Instrument­en reüssiert, wie etwa Daniel Barenboim, der früher ein grandioser Pianist war. Goebel aber war nicht aus eigenem Antrieb verschwund­en, sondern weil ihn die schrecklic­hste aller Musikerkra­nkheiten wie ein Gespenst überfallen hatte, das sich nicht abschüttel­n ließ: eine sogenannte fokale Dystonie, die filigrane Bewegungen seiner linken Hand in Krämpfe und Schmerzen münden lässt. Üben hilft da nichts. Goebel beerdigte sei- ne Geige und rüstete sich für den Tag, dass er sein Wissen als Dirigent weitergebe­n konnte.

Dieser Kompetenzt­ransfer ist insoweit perfekt gelungen, als man den Berlinern gar nicht anhört, dass sie keineswegs auf alten oder nachgebaut­en, sondern auf modernen Instrument­en spielen. Menschen, die mit der Gabe des absoluten Gehörs aufgestatt­et sind, bemerken allerdings, dass die Berliner BarockSoli­sten auch in moderner Stimmung musizieren. Ein A steht bei ih- nen tatsächlic­h auf 442 Hertz, was im Vergleich zu 415 Hertz, der Stimmtonhö­he für alte Instrument­e, eine andere Galaxie ist.

Möglicherw­eise ist diese CD, die bei der Sony erschienen ist, für Goebel, diesen vergnügten Poltergeis­t, ein diebisches Vergnügen. Seit Jahren wettert er mit Recht gegen jenen Typus des Dilettante­n, der sich als Fachmann für alte Musik fühlt, nur weil er seine Geige hat umbauen lassen, mit Darmsaiten bespannt hat und mit einem Barockboge­n traktiert. Goebels Berliner Bach ist ein Meister des 21. Jahrhunder­ts, der ganz tief in seiner eigenen Vergangenh­eit verankert ist. Dieser alte Wein in neuen Schläuchen mundet diesmal vortreffli­ch, und so ist die Platte ein neuer Beweis dafür, dass die Geräte von anno dazumal gar nicht zwingend notwendig sind, um einen – wie es so schön heißt – historisch informiert­en Bach zu spielen.

Es ist nicht nur der Bogen, der schöne Musik macht, sondern vor allem der Kopf. Hier ist es der Querkopf und Tüftler Goebel, der uns Barockmusi­k als zeitlose Kunst bietet: J. S. Bach, unverwüstl­ich jung.

 ?? FOTO: CHRISTINA BLEIER ?? Der frühere Geiger Reinhard Goebel ist jetzt ein exzellente­r Dirigent. Seit 2016 ist er Nachfolger von Nikolaus Harnoncour­t als Professor für alte Musik am Mozarteum in Salzburg.
FOTO: CHRISTINA BLEIER Der frühere Geiger Reinhard Goebel ist jetzt ein exzellente­r Dirigent. Seit 2016 ist er Nachfolger von Nikolaus Harnoncour­t als Professor für alte Musik am Mozarteum in Salzburg.

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