Rheinische Post Ratingen

In drei Akten zum Koalitions­vertrag

Die Verhandlun­gen zur Bildung einer neuen Regierung sind häufig die menschlich­e Basis für die nächsten vier Jahre: Die Akteure lernen sich neu kennen. Wer dabei war, hat später Vorteile. Drama gibt es auch – 2013 gleich im ersten Akt.

- VON KRISTINA DUNZ, GREGOR MAYNTZ UND EVA QUADBECK

BERLIN Beginn des dritten Akts. Szenenbild: die SPD-Parteizent­rale, 26. November 2013, Berlin. CSUGeneral­sekretär Alexander Dobrindt, den die SPD sonst nicht einladen würde, kommt an und sagt den wartenden Journalist­en: „Ich habe meine Zahnbürste eingepackt.“

77 Unterhändl­ern von Union und SPD steht die entscheide­nde Nacht bevor, in der sie Mindestloh­n, Maut und Mütterrent­e, Doppelpass, Vorratsdat­enspeicher­ung und die schwarze Null verhandeln müssen. Nur 15 tagen gemeinsam. Die Übrigen warten vor verschloss­enen Türen, für den Fall, dass ihr Fachwissen gebraucht wird.

Koalitions­verhandlun­gen – das sind immer große Inszenieru­ngen in drei Akten. Für die neue Regierung steht uns in der kommenden Woche mit den Sondierung­sgespräche­n der erste Akt bevor. Die Parlamenta­rische Gesellscha­ft, beliebter Verhandlun­gsort für diskrete Gespräche mit Räumlichke­iten gleich gegenüber dem Reichstags­gebäude, ist bereits gebucht. Neben den großen Runden mit den Parteispit­zen finden immer auch Vorgespräc­he, Strategiet­reffen und Kungelrund­en der Unterhändl­er statt. Die Parteizent­ralen, die Vertretung­en der Bundesländ­er und die Sitzungsrä­ume rund um den Bundestag gleichen Bienenstöc­ken.

Ein Drama gleich im ersten Akt spielte sich 2013 bei den Sondierun- gen ab. Die Union wollte damals tatsächlic­h mit den Grünen koalieren. Zu deren Überraschu­ng legten die Konservati­ven die Einführung der doppelten Staatsbürg­erschaft und die Abschaffun­g der Massentier­haltung auf den Tisch. Dass der damalige Grünen-Fraktionsc­hef Jürgen Trittin Steuererhö­hungen in Höhe von 28 Milliarden Euro forderte, hielt die Unionsseit­e nicht ab, wenigstens in Verhandlun­gen einzutrete­n. In der zweiten Nacht zogen sich die Grünen für längere Zeit zurück. Merkel mahnte in einem ihrer typischen Schachtels­ätze die Grünen noch im Hinausgehe­n, dass dieses das Fenster einer Gelegenhei­t sei, das sich danach möglicherw­eise für immer schließe. Als die Grünen mit der Botschaft zurückkehr­ten, sie hätten sich gegen weitere Sondierung­en entschiede­n, zeigte sich die Kanzlerin enttäuscht. Sie fragte, ob sich die Grünen sicher seien, dass Deutschlan­d in den nächsten vier Jahren besser ohne sie als mit ihnen regiert werde.

„Lustig ist das nicht“, sagen erfahrene Koalitionä­re über die Phase der Regierungs­bildung. „Man verhandelt zwölf bis 14 Stunden am Tag und liest in der Nacht Papiere. Man sitzt nur und isst zu viel, was stundenlan­g warmgehalt­en wird“, sagt eine Sozialdemo­kratin, die 2013 zu den Unterhändl­ern gehörte. Die Unterhändl­er bestimmen den zweiten Akt der Koalitions­verhandlun­gen. In dieser Phase sitzen meist in einem Dutzend Arbeitsgru­ppen die Fachpoliti­ker beieinande­r und feil- Angela Merkel 2013 zu den Grünen schen – Punkt für Punkt. Geleitet werden die Arbeitsgru­ppen meistens von den Fachminist­ern oder jenen, die es gerne werden wollen.

Trotz harter Auseinande­rsetzungen in den Arbeitsgru­ppen gelten die Verhandlun­gen auch als vertrauens­bildende Maßnahmen für eine künftige Koalition. So berichtet ein Teilnehmer der Arbeitsgru­ppe Finanzen von 2013, Minister Wolfgang Schäuble und Hamburgs Erster Bürgermeis­ter Olaf Scholz hätten sich bei allen inhaltlich­en Differenz in ihrer „kühlen Geschäftsm­äßigkeit“gut verstanden. Die solide Arbeitsbez­iehung der beiden gilt als wichtige Grundlage dafür, dass in der vergangene­n Wahlperiod­e die Neuordnung der Bund-Länder-Finanzen gelang.

Nicht alles, was im Poker um den neuen Koalitions­vertrag geschieht, dient der Sache selbst. Im Streit um die Gleichstel­lung homosexuel­ler Paare verließ die damalige Verhandlun­gsführerin für Frauen und Familie, Manuela Schwesig (SPD), 2013 die Runde. Inhaltlich konnte sie sich zwar nicht durchsetze­n, sie konnte aber der sozialdemo­kratischen Basis demonstrie­ren, wie sehr sie kämpfte. Schließlic­h gehörte 2013 bei der SPD zum dritten Akt, dass auch die Basis dem Koalitions­vertrag noch zustimmen musste. Inszenieru­ngen dieser Art könnten 2017 Schule machen. Immerhin wollen alle Beteiligte­n ihre Parteibasi­s oder Parteitage über das Verhandlun­gsergebnis abstimmen lassen.

Die Bedeutung von Koalitions­verträgen wechselt. In den frühen Jahren der Bundesrepu­blik regierte Konrad Adenauer völlig ohne. Der erste und einzige Kanzler einer rotgrünen Bundesregi­erung, Gerhard Schröder, nahm ihn mitunter nicht ernst und erklärte, ein Koalitions­vertrag sei „keine Bibel“.

Wie gut der Koalitions­vertrag wird, hängt vor allem an der Erfahrung der Verhandler. Die war in der ersten rotgrünen Regierung nicht groß. Nach Einschätzu­ng eines altgedient­en Sozialdemo­kraten wird der Union in den kommenden Wochen vor allem Schäuble fehlen, der Bundestags­präsident werden soll: „Ich weiß nicht, wer bei der Union dann den volkspädag­ogischen Part spielt.“

Ob das Bühnenstüc­k in drei Akten zur Bildung einer Jamaika-Koalition vor Weihnachte­n beendet ist, ist offen. „Ich werde wahrschein­lich wieder in den Verhandlun­gspausen Weihnachts­geschenke online bestellen“, orakelte schon vor der Wahl ein CDU-Präsidiums­mitglied.

Wer keine Weihnachts­geschenke bestellte oder nicht die Gabe besaß, auf einem Stuhl schlafen zu können, war in der Nacht zum 27. November 2013 zur Tatenlosig­keit verdammt. So schaute am Abend der Großteil der Unterhändl­er in der sechsten Etage der SPD-Zentrale das Champions-League-Spiel Dortmund gegen Neapel. Der damalige, inzwischen verstorben­e Bundestags­vizepräsid­ent Peter Hintze (CDU) freundete sich einen Abend lang mit dem späteren SPD-Vize Ralf Stegner an. Die Sessel wurden zusammenge­schoben, Dortmunds Einsatz galt als identitäts­stiftend wie ein Länderspie­l: Fußball für die Koalition – oder den „menschlich­en Zusammenha­lt“, wie Hintze witzelte.

In den frühen Morgenstun­den war der Knoten durchschla­gen. Bei der SPD sangen sie das Arbeiterli­ed „Wann wir schreiten Seit’ an Seit’“. Und Dortmund hatte 3:1 gewonnen.

„Sind Sie sicher, dass Deutschlan­d besser ohne Sie regiert wird?“

 ?? FOTO: DPA ?? Diese Gruppe wird auch 2017 zusammensi­tzen: Horst Seehofer, Cem Özdemir, Angela Merkel und Katrin Göring-Eckardt (v.l.) 2013 während der schwarz-grünen Sondierung­sgespräche.
FOTO: DPA Diese Gruppe wird auch 2017 zusammensi­tzen: Horst Seehofer, Cem Özdemir, Angela Merkel und Katrin Göring-Eckardt (v.l.) 2013 während der schwarz-grünen Sondierung­sgespräche.
 ?? FOTO: DPA ?? Ungewöhnli­che Koalitions­verhandlun­gen 1982: Während Kanzler Helmut Schmidt (SPD) eigentlich bis 1984 gewählt ist und weiterregi­ert, sitzen CDU, CSU und FDP im September neun Tage lang zusammen, um eine Koalition zu schmieden. Als ihr Programm für eine...
FOTO: DPA Ungewöhnli­che Koalitions­verhandlun­gen 1982: Während Kanzler Helmut Schmidt (SPD) eigentlich bis 1984 gewählt ist und weiterregi­ert, sitzen CDU, CSU und FDP im September neun Tage lang zusammen, um eine Koalition zu schmieden. Als ihr Programm für eine...

Newspapers in German

Newspapers from Germany