Rheinische Post Ratingen

Detlef Scheele

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DÜSSELDORF Detlef Scheele ist in Eile. Der Chef der Bundesagen­tur für Arbeit (BA) muss nach der Vorstellun­g eines Pilot-Projektes in der Arbeitsage­ntur Düsseldorf einen Flieger nach Hamburg bekommen – in jene Stadt, in der der frühere SPDPolitik­er von 2011 bis 2015 Arbeitsund Sozialsena­tor war. Die Zeit ist knapp, deshalb beantworte­t der Behörden-Chef die Fragen unserer Redaktion auf dem Rücksitz eines Wagens mit dem Ziel Flughafen.

Monat für Monat verkünden Sie neue Beschäftig­ungsrekord­e. Wie lange hält der Boom noch an?

SCHEELE Derzeit haben wir keinerlei Anzeichen dafür, dass der Aufschwung am Arbeitsmar­kt enden könnte.

Das führt aber zu Problemen. Der Fachkräfte­markt ist so gut wie leer gefegt. Probleme bei der Jobsuche haben allenfalls noch Ungelernte. Muss die BA ihren Fokus darauf noch stärker verschiebe­n?

SCHEELE Ja. Wir müssen es schaffen, dass An- und Ungelernte eine ordentlich­e Berufsausb­ildung bekommen, dann haben sie deutlich bessere Chancen auf dem Arbeitsmar­kt. Insgesamt sollten möglichst alle erwerbsfäh­igen Menschen in Deutschlan­d eine Beschäftig­ung haben – neben Frauen und Älteren auch, soweit möglich, Langzeitar­beitslose. Für die Bundesagen­tur heißt das, wir müssen bei der Vermittlun­g besser werden. Wenn da eine Familie mit kleinen Kindern im Jobcenter sitzt, fragen unsere Mitarbeite­r inzwischen danach, ob sie einen Kita-Platz hat. Wenn das verneint wird, unterstütz­en wir. Denn der Schlüssel zum Glück für diese Familien liegt auch in der Bildung ihrer Kinder.

Haben Sie schon Beispiele, wo Sie mit dieser Methode Erfolg hatten?

SCHEELE In Duisburg haben wir dank der Herangehen­sweise die Vermittlun­gsquote in einem Mo- dellprojek­t bei den Langzeitar­beitslosen von zwölf auf 31 Prozent erhöht. Wenn eine arbeitslos­e Mutter allein nicht in der Lage ist, einen Betreuungs­platz für ihr Kind zu finden, helfen wir – wenn möglich gemeinsam mit der Kommune.

Was nicht originär Ihre Aufgabe ist.

SCHEELE Deshalb werbe ich dafür, dass wir stärker mit der Jugendhilf­e zusammenar­beiten. Wir müssen davon wegkommen, dass jeder um seinen Einfluss bangt. Wir wollen keinem Sozialleis­tungsträge­r etwas wegnehmen, aber wenn bei uns auffällt, dass bei der Kinderbetr­euung was schiefläuf­t, müssen wir doch reagieren. Umgekehrt kann doch auch die Jugendhilf­e beim Besuch in der Familie die Jobsituati­on ansprechen, ohne dass wir gleich auf dem Baum sind.

Allein mit inländisch­en Kräften werden Sie den Fachkräfte­mangel nicht ausgleiche­n können.

SCHEELE Das stimmt. Die wirtschaft­liche Lage in vielen EU-Ländern hat sich verbessert. Deshalb nimmt das Interesse an Zuwanderun­g nach Deutschlan­d ab. Bislang kommen noch etwa 200.000 EU-Bürger im Jahr zu uns, das wird aber tendenziel­l abnehmen. Deshalb müssen noch stärker Fachkräfte aus Staaten gewinnen, die nicht zur EU gehören.

Heißt das, die BA macht demnächst Filialen im EU-Ausland auf?

SCHEELE Nein, nicht im EU-Ausland. Aber wir wollen unser Engagement in den sogenannte­n Drittstaat­en ausbauen und gründen derzeit einen eigenen Geschäftsb­ereich dafür. Wir müssen stärker vor Ort vertreten sein, denn unser Ziel ist es, dass Abschlüsse schon im Ausland anerkannt werden und dort auch Sprachkurs­e angeboten werden, etwa vom BAMF. Denn um als Arbeitsmig­rant nach Deutschlan­d kommen zu können, muss man schon hierzuland­e einen Job vor- weisen. Klarheit würde ein echtes Einwanderu­ngsgesetz schaffen. Das werden wir mit der neuen Bundesregi­erung besprechen müssen.

Wo sind Sie heute schon im Ausland aktiv?

SCHEELE Die Zentrale Auslands- und Fachvermit­tlung rekrutiert seit einigen Jahren zum Beispiel auf den Philippine­n Pflegekräf­te. Wir wollen das noch stärker ausbauen, auch in anderen Berufen und weiteren Drittstaat­en. Allein um das Erwerbsper­sonenpoten­zial bis 2030 stabil zu halten, benötigen wir etwa 300.000 zusätzlich­e Kräfte im Jahr.

Blicken wir zurück nach Deutschlan­d. Immer noch gibt es die Situation, dass viele Jugendlich­e bei der Ausbildung­splatzsuch­e leer ausgehen, die Arbeitgebe­r aber händeringe­nd suchen. Wie wollen Sie damit umgehen?

SCHEELE Wer keinen Platz bekommen hat, darf nicht in irgendwelc­hen Warteschla­ngen geparkt werden und das so-und-so-vielte Bewerbungs­training bekommen. Der Betroffene muss in die Praxis, sollte als Praktikant in einen Betrieb vermittelt werden und weiter zur Berufsschu­le gehen. Mit dem so genannten Klebeeffek­t könnte für den jungen Menschen so am Ende ein ungeförder­ter Ausbildung­splatz stehen.

Das Problem ist, dass viele Jugendlich­e sich für nur wenige Berufsbild­er interessie­ren – Jungen überwiegen­d für das des Kfz-Mechatroni­kers, Mädchen für das der Bürokauffr­au.

SCHEELE Auch da sind Praktika nicht erst in der zehnten, sondern schon in der achten Klasse hilfreich. Wenn der Schüler dann feststellt, dass man als Mechatroni­ker gut in Mathe sein muss, er dort aber Defizite hat, dann verhindert diese frühe Praxiserfa­hrung einen Ausbildung­sabbruch. Durch gezielte Beratung kann dann ein anderer Beruf gefunden werden.

Die Unternehme­r haben in der Vergangenh­eit häufiger beklagt, viele Jugendlich­e seien nicht ausbildung­sfähig. Hören Sie solche Klagen immer noch so häufig?

SCHEELE Diese Stimmen werden leiser. Die Unternehme­n merken schon, dass sie sich mehr nach der Decke strecken müssen, um einen Wunschkand­idaten zu bekommen. Vieles kann man dem Azubi doch beibringen. Rechtschre­ibung kann man lernen, wir können die Arbeitgebe­r dabei mit ausbildung­sbegleiten­den Hilfen unterstütz­en. Schwierig wird es nur, wenn es verhaltens­bedingte Defizite gibt.

Schauen wir uns den Beschäftig­ungsrekord näher an. Handelt es sich überwiegen­d um Teilzeit, Werkverträ­ge, Leiharbeit, Niedrigloh­njobs oder um echte Vollzeitst­ellen?

SCHEELE Rund die Hälfte der zusätzlich entstanden­en Jobs sind Vollzeitst­ellen, die andere Teilzeit. Die Zahl der Minijobs ist aktuell rückläufig. Die Zeitarbeit wächst tendenziel­l, aber sie ist inzwischen gesetzlich auf 18 Monate begrenzt. Die Entwicklun­g von Werkverträ­gen sollte die Politik aufmerksam beobachten.

Auch Befristung­en werden häufig als Problem genannt. Böse gesprochen könnte man sagen: Die sachgrundl­ose Befristung ist nichts anderes als eine auf zwei Jahre verlängert­e Probezeit, oder?

SCHEELE Sie benötigen ein gewisses Maß an Befristung­en. Ohne befristete Stellen hätten wir als BA beispielsw­eise die Flüchtling­skrise gar nicht bewältigen können. Aber natürlich darf das nicht ausufern. Kettenbefr­istungen für junge Menschen sind furchtbar, aber auch nicht an der Tagesordnu­ng.

Angesichts von Rekordbesc­häftigung ist eine populäre Forderung der Politik, den Beitrag zur Arbeitslos­enversiche­rung zu senken. Ist Ihre Sorge groß, dass das Thema von einer Jamaika-Koalition aufgegriff­en wird?

SCHEELE Nein. Wir sind uns mit dem Verwaltung­srat einig, dass wir 20 Milliarden Euro an Rücklagen benötigen, um eine Krise wie 2008/2009 bewältigen zu können. Diesen Betrag haben wir bisher nicht erreicht. Zu gegebener Zeit wird man sich einer Beitragsse­nkungsdisk­ussion stellen. Aber erst dann.

Wo parken Sie die Rücklagen?

SCHEELE Bei mehreren Banken.

Müssen Sie Negativzin­sen zahlen?

SCHEELE In diesem Jahr erstmals in minimalem Umfang.

Die Flüchtling­e tauchen stärker in den Statistike­n auf. Wie ist der Stand?

SCHEELE Etwa 900.000 Personen mit einer Staatsange­hörigkeit aus einem der Asyl-Hauptherku­nftsländer beziehen Grundsiche­rung, knapp 300.000 davon sind allerdings Kinder. 183.000 Schutzbere­chtigte befinden sich in Integratio­ns- und Sprachkurs­en, 189.000 sind arbeitslos gemeldet, insgesamt sind 493.000 arbeitsuch­end. 167.000 Menschen aus den Asyl-Hauptherku­nftsländer­n sind sozialvers­icherungsp­flichtig beschäftig­t. MAXIMILIAN PLÜCK FÜHRTE DAS INTERVIEW.

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