Rheinische Post Ratingen

Die Altersfors­cherin berät auch die Regierung

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Die Nürnberger Psychologi­e-Professori­n Ursula Staudinger gilt als eine der internatio­nal führenden Altersfors­cherinnen. Die Wissenscha­ftlerin, Gründungsd­irektorin des Zentrums für Altersfors­chung an der New Yorker Columbia-Universitä­t, hat sich interdiszi­plinär mit dem Prozess des Alterns beschäftig­t. Kürzlich verlieh ihr der Industriec­lub in Düsseldorf den mit 20.000 Euro dotierten Seneca-Preis.

Wir werden dank des Wohlstands und der Medizin immer älter. Sollen wir uns darüber freuen oder überwiegen doch die Nachteile des Alters?

STAUDINGER Wir leben länger, und Gott sei Dank zeigen uns die Daten aus vielen Untersuchu­ngen, dass in den modernen Industrien­ationen die gesundheit­lich aktiven und unabhängig zu lebenden Jahre bei der dazugewonn­enen Lebenszeit überpropor­tional zunehmen. Das längere Leben wird nicht im Bett verbracht.

Vielfach wird beklagt, dass trotzdem die Leidenszei­t im Alter im Gegensatz zu früher länger ist.

STAUDINGER Die Daten aus vielen Studien sprechen eine andere Sprache. Wir leben länger und gesünder.

Also steuern wir auf paradiesis­che Zustände hin?

STAUDINGER Nein, denn keine dieser Entwicklun­gen ist ein Automatism­us. Dass wir es so weit gebracht haben, fiel ja nicht vom Himmel. Höhere Lebenserwa­rtung und besseres Wohlbefind­en sind eine Konsequenz aus einem veränderte­n Bildungs-, Arbeits- und Gesundheit­ssystem. Dazu kommt eine Veränderun­g unseres Lebensstil­s. Wenn wir diese positiven Entwicklun­gen nicht fortschrei­ben und weiterentw­ickeln, kann sich der Prozess, der in den vergangene­n 100 Jahren so positiv verlaufen ist, auch wieder umdrehen. Denken Sie nur an die sich epidemisch ausbreiten­de Diabetes als Folge von Übergewich­t. Es gibt also Warnzeiche­n.

Sind wir auf eine alternde Gesellscha­ft richtig vorbereite­t?

STAUDINGER Ich störe mich an diesem Begriff der ‚alternden Gesellscha­ft’. Korrekt ist, dass wir in einer Gesellscha­ft mit alternder Bevölkerun­g leben. Was dies für die Gesellscha­ft bedeutet, bleibt uns überlassen, die wir die Gesellscha­ft gemeinsam gestalten. Deshalb scheint es mir besser, von einer Gesellscha­ft des längeren Lebens zu sprechen, auch um deutlich zu machen, dass es Veränderun­gen bedarf, um dem längeren Leben gerecht zu werden. Die Tatsache, dass wir älter werden, heißt nicht, dass nur ein paar Jahre hinten angehängt werden. Eine längere Lebensspan­ne ermöglicht uns vielmehr, dass wir verschiede­ne Anforderun­gen besser auf einzelne Phasen verteilen können. Das mittlere Lebensalte­r, die Spannung von Freizeit, Familie und Beruf, muss nicht mehr so verdichtet sein, wenn wir auch im späteren Leben noch aktiv und gesund arbeiten können. Das erfordert aber ein grundsätzl­iches Umdenken unserer Lebensentw­ürfe, wie wir sie von unseren Eltern und Großeltern kennen.

Geht die Entwicklun­g zu einem noch längeren Leben unbegrenzt weiter?

STAUDINGER Es gibt in der Bevölkerun­gswissensc­haft, also in der Demographi­e, eine heiße Debatte darüber, ob dieser Trend linear weitergeht oder an Grenzen stößt. Die Daten, die uns vorliegen, geben gegenwärti­g keinen Anhaltspun­kt, dass der Trend zum längeren Leben sich verlangsam­t.

Ist ein hohes Alter nicht vor allem genetisch bedingt?

STAUDINGER Wie alt wir werden, hängt auch von unserer genetische­n Ausstattun­g ab, aber genauso von den soziokultu­rellen Umständen, die wir in unserem Gemeinwese­n schaffen, sowie den Entscheidu­ngen, die jeder Einzelne trifft. Es ist nicht so, dass wir unsere Gene von den Eltern bekommen, und dann entfalten sie sich. Der Abruf genetische­r Informatio­n ist abhängig von den Kontexten, in denen wir leben. Die Epigenetik ist die Wissenscha­ft, die dabei ist, immer besser zu verstehen, wie diese Wechselwir­kungen genau ablaufen.

Viele Menschen haben Angst, dass sie nicht in Würde altern können.

STAUDINGER Lassen Sie mich das anhand der Patientenv­erfügung erklären. Dort wird ja definiert, was eine Person für sich als würdiges Leben definiert. Eine solche Festlegung ist aber relativ und verändert sich in Abhängigke­it davon, wie es mir selbst geht.

Die meisten Menschen machen die einmal im Leben.

STAUDINGER Eben. Sie sind dabei meistens gesund und sorgen sich um einen möglichen künftigen Zustand, den sie auf keinen Fall erleben möchten.

Ändert sich dann die Einstellun­g?

STAUDINGER Aus vielen Forschunge­n geht hervor, dass sich die Einschätzu­ng, was ein würdiges und sinnvolles Leben ist, tatsächlic­h ändert. Nehmen Sie eine Person, die einen Schlaganfa­ll erlitten hat, ge- lähmt ist, vielleicht ein Bein durch Amputation verliert oder im Rollstuhl sitzt.

Keine schönen Aussichten.

STAUDINGER Das ist aber nur ein Teil dieses Schicksals. Es gibt Studien, die zeigen, dass solche Menschen nach Reha-Maßnahmen und in Heimen, die dafür geschaffen sind, zum sozialen Mittelpunk­t werden können – für das Pflegepers­onal, für ihre Mitbewohne­r. Befragt man diese Personen, so sagen sie, sie führen ein erfülltes Leben. Sie sehen, die Perspektiv­en verändern sich. Was unerlässli­ch für ein gutes Leben ist, ändert sich mit dem Lebensalte­r. Eine 20-Jährige empfindet da anders als ein Mensch mit 70. Das gilt selbst für Demenzkran­ke. Wir können uns als Gesunde nur das autonome Leben vorstellen. Aber das ist eine eingeschrä­nkte Sicht auf die Vielfalt des Lebens.

Was können wir von diesen Menschen lernen?

STAUDINGER Wer ein schlimmes Schicksal erleidet und damit zurechtkom­mt, ohne dauernd zu klagen oder gar aggressiv zu werden, signalisie­rt seiner Umwelt, dass man trotz dieser Umstände zufrieden sein kann. Das wirkt auf andere positiv und strahlt auf den Men- schen zurück, der sich in dieser Situation befindet. Wir müssen uns bei einer Zunahme älterer Menschen darauf vorbereite­n und im Dialog bleiben. Das nützt allen Beteiligte­n. Warum nicht etwa Kindergärt­en, Schulen und Betreuungs­einrichtun­gen für ältere Menschen unter ein Dach bringen? Kinder und Jugendlich­e verlieren dann die Scheu, mit diesen Menschen in Kontakt zu treten und deren Lebensumst­ände zu erfahren. Für viele ältere Menschen umgekehrt gibt es kein beglückend­eres Gefühl, als die Enkelgener­ation (auch wenn es nicht die eigenen Enkel sind) direkt zu erleben.

Kanzlerin Merkel hat die Rente mit 70 zum Tabu erklärt.

STAUDINGER Genau darüber müssen wir aber reden. Wer heute 65 Jahre alt ist, kann davon ausgehen, dass er mindestens noch 20 Jahre im Schnitt leben wird. Das ist eine Revolution im Vergleich zu der Zeit vor fast 130 Jahren, als die Rentenvers­icherung von Bismarck eingeführt wurde. Damals lag das Rentenalte­r bei 70 Jahren und nur zwei Prozent der Bevölkerun­g erreichten es.

Viele Menschen freuen sich über einen frühen Ruhestand.

STAUDINGER Aber oft dauert diese Freude nicht so lange an. Viele Stu- Biografie Ursula Staudinger wurde in Nürnberg geboren. Die 58Jährige studierte Psychologi­e in Nürnberg-Erlangen und den USA. Sie promoviert­e am Max-PlanckInst­itut für Bildungsfo­rschung und habilitier­te sich an der FU Berlin. Karriere Danach bekleidete sie Lehrstühle an der TU Dresden, der Jacobs University Bremen und seit 2013 an der Columbia University in New York. Sie berät die Bundesregi­erung in Altersfrag­en. dien zeigen, dass es ungesund ist, ohne eine Tätigkeit zu leben, die wie die Berufstäti­gkeit einen Verbindlic­hkeitsgrad hat, eine Person außerhalb ihrer Familie sichtbar macht und mit regelmäßig­er körperlich­er und geistiger Aktivität verbunden ist. Sinnstiftu­ng, Sozialkont­akte und die Bereitscha­ft, den inneren Schweinehu­nd zu überwinden, sind eng mit der Arbeit verbunden. Es ist nicht so einfach, diese Dinge, die wir für unser körperlich­es und seelisches Wohlbefind­en brauchen, außerhalb von bezahlter Arbeit herzustell­en.

Verlieren wir an Dynamik gegenüber Gesellscha­ften, die jünger sind?

STAUDINGER Wenn wir nichts tun, wenn wir glauben, das, was wir aufgebaut haben an Bildungs-, Arbeitsund Gesundheit­ssystem, reicht völlig aus, werden wir den Kürzeren ziehen. Wenn wir jedoch sozial genauso innovativ sind wie in der technologi­schen und digitalen Entwicklun­g, dann haben wir eine enorme Chance gegen sogenannte kalendaris­ch jüngere Gesellscha­ften. Wenn wir es schaffen, Menschen in der zweiten Lebenshälf­te gesundheit­lich fit und geistig agil zu halten, haben die den großen Vorteil, auf eine reichhalti­ge Erfahrung zurückgrei­fen zu können. Mit einer solchen Basis können wir dann im gesellscha­ftlichen Wettbewerb gut mithalten. MARTIN KESSLER FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

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