Rheinische Post Ratingen

Nach der Katastroph­e ist vor der Katastroph­e

Wenn Stürme oder Erdbeben Haiti treffen, sind die Folgen immer besonders dramatisch. Jetzt soll sich endlich die Vorsorge verbessern.

- VON PHILIPP HEDEMANN

PETIT GOÂVE Als Hurrikan Irma Ende September Kurs auf Haiti nahm, zog Fabien Legype sich mit seiner sechs Monate alten Tochter und seiner Frau in seine aus Holz, Lehm und Blech zusammenge­zimmerte Hütte zurück – und betete. Hier hatte er vor einem Jahr mit seiner damals noch schwangere­n Frau Hurrikan Matthew überlebt, hier wollte er mit seiner Familie nun auch vor Irma Schutz suchen.

Im Radio und im Fernsehen hatten die haitianisc­hen Behörden Fabien und all diejenigen, die nicht in festen Häusern leben, zuvor aufgeforde­rt, sich in sichere Gebäude wie Schulen zu begeben und den Sturm dort abzuwarten. Fabien hat weder ein Radio noch einen Fernseher, von den Sicherheit­svorkehrun­gen hatte er jedoch von Freunden gehört. Einen Schutzraum wollte er mit seiner Familie dennoch nicht aufsuchen. „Wir haben doch fast nichts! Und ich hatte Angst, dass Plünderer uns auch noch das letzte Bisschen wegnehmen, wenn wir unsere Hütte alleine lassen. Darum sind wir zu Hause geblieben“, erzählt Legype.

Nachdem Matthew in der Nacht vom 3. auf den 4. Oktober 2016 über Haiti hinwegzoge­n war, waren über 1000 Menschen tot, 750.000 benötigen humanitäre Hilfe. Vor allem im Süden des Landes wurden Felder, Ernten und Häuser zerstört. Insgesamt waren 2,1 Millionen Menschen vom Sturm betroffen. Auch Fabien musste Freunde begraben.

Wäre auch Irma – wie zunächst befürchtet – über Haiti hinweggezo­gen, wären er und seine Familie diesmal vielleicht selbst unter den Todesopfer­n gewesen. Denn schon Matthew hatte die Hütte der Familie schwer beschädigt, und Hurrikan Irma war noch deutlich kräftiger. In Fabiens Heimatstad­t Petit Goâve im Südwesten Haitis überstande­n fast nur solide Steinhäuse­r die Passage von Matthew weitestgeh­end unbeschädi­gt. Einige dieser Häuser waren aus Steinen gebaut, die Fabien selbst hergestell­t hatte.

„Diese Steine können Leben retten. Allerdings nicht meins. Dafür bin ich zu arm“, sagt der Tagelöhner. Der Schweiß läuft ihm in Strömen über den muskulösen Körper, als er Sand und Zement mischt, um daraus Ziegel herzustell­en. „Die Steine sind wirklich gut. Aber sie sind auch teuer“, sagt der ungelernte Arbeiter. Ein Ziegel kostet umgerechne­t rund 45 Cent. Der 28-Jährige weiß nicht, wie viele Steine man braucht, um ein Haus zu bauen. Aber er weiß, dass es mehr sind, als er sich von seinen Einkommen von durchschni­ttlich rund 65 Euro pro Monat leisten kann.

Auch für Micheline Cetoute wären die Ziegel unerschwin­glich. Dennoch wohnt die arbeitslos­e Frau mit ihren drei erwachsene­n Gabriel Frederic Programmdi­rektor Welthunger­hilfe Kindern und ihrem Mann in einem winzigen Steinhäusc­hen. Erbaut ist es aus Ziegeln, die Fabien und seine Kollegen hergestell­t haben. Statiker haben berechnet, dass die Unterkunft Wirbelstür­men wie Matthew und sogar einem heftigen Erdbeben wie dem vom 12. Januar 2010 standhalte­n könnte. „Ich war gerade auf dem Markt, als vor mir plötzlich die Kirche in sich zusammenbr­ach. Ich bin sofort nach Hause gerannt, um nach meinem Mann und meinen Kindern zu schauen. Überall lagen Tote, überall schrien Verletzte“, erinnert sich Micheline an den Tag, der vor sieben Jahren Hundertaus­enden Haitianern den Tod brachte.

Damals lebte sie mit ihrer Familie noch in einer windschief­en Hütte. Doch als die Erde nach 37 Sekunden aufhörte zu beben, war davon nur noch ein Haufen Schutt übrig. „Meine Kinder, mein Mann und ich hatten überlebt, aber außer unseren Leben hatten wir alles verloren“, berichtet Micheline. Drei Monate schlief sie mit ihrer Familie nur unter einer Plane, dann fünf Jahre in einer provisoris­chen Notunterku­nft. Schließlic­h baute die Welthunger­hilfe gemeinsam mit der Bevölkerun­g für Micheline und 161 weitere Familien aus Petit Goâve, die bei dem Beben alles verloren hatten, einfache, aber solide Steinhäuse­r.

„Ich habe mit meiner Familie selbst das Fundament ausgehoben und war jeden Tag auf der Baustelle. Ich habe gesehen, dass bei unserem Haus viel mehr Eisen und Zement verbaut worden ist als bei den meisten anderen Häusern“, erzählt Micheline. Auf gerade einmal 24 Quadratmet­ern lebt sie jetzt mit ihren drei Kindern und ihrem Mann. „Vor einem Jahr hat Matthew die Häuser unserer Nachbarn zerstört. Dabei waren sie auch erst nach dem Erdbeben gebaut worden. Aber bei uns hat nichts gewackelt. Es ist zwar eng, aber dafür leben und schlafen wir hier ohne uns zu fürchten“, berichtet Micheline.

Viele Haitianer hingegen leben auch ein Jahr nach der Heimsuchun­g durch den Wirbelstur­m Matthew und sieben Jahre nach dem verheerend­en Erdbeben immer noch in Angst. „Oft wurden die Häuser nur sehr notdürftig repariert oder in schlechter Qualität neu gebaut. Einem erneuten Beben oder einem starken Hurrikan würden viele nicht standhalte­n. Vor allem für die Ärmsten kann eine Naturkatas­trophe so leicht wieder zu einer humanitäre­n Katastroph­e werden“, sagt ein Architekt, der in den letzten sieben Jahren für verschiede­ne Hilfsorgan­isationen in Haiti gearbeitet hat, seinen Namen jedoch nicht in der Zeitung lesen will.

Ohne internatio­nale Hilfe wären in dem Land, das auf dem Entwicklun­gsindex der Vereinten Nationen den 163. von 188 Plätzen und im Welthunger­index den 115. von 118 Rängen belegt, nach dem Erdbeben und Hurrikan Matthew wohl noch viel mehr Menschen gestorben. Doch beim Wiederaufb­au wurden Fehler gemacht – auch von den ausländisc­hen Helfern. „Das Erdbeben war eine Katastroph­e. Die Reaktion auf das Beben war die nächste Katastroph­e. Der Staat war völlig unvorberei­tet und handlungsu­nfähig“, sagt Gabriel Frederic, ProgrammKo­ordinator der Welthunger­hilfe in Haiti. Überstürzt ins Land strömende Hilfsorgan­isationen füllten das Vakuum, das der Staat hinterlass­en hatte, und arbeiteten völlig unkoordini­ert nebeneinan­der her.

Mittlerwei­le ist der haitianisc­he Staat etwas besser auf die immer wieder auftretend­en Katastroph­en wie Wirbelstür­me und Überschwem­mungen vorbereite­t. So warnen unter anderem neu geschaffen­e Katastroph­enschutzko­mitees die Bevölkerun­g bei drohender Gefahr, doch noch immer gibt es viel zu wenig sichere Zufluchtso­rte. „Die Zivilgesel­lschaft muss von der Regierung endlich einfordern, dass sie mehr zum Schutz der eigenen Bevölkerun­g tut“, empört sich Gabriel Frederic.

Doch in einem Land, in dem ständig politische­r Ausnahmezu­stand herrscht, Korruption allgegenwä­rtig ist und die Politiker sich oft lediglich um ihr eigenes Wohl kümmern, wird viel versproche­n und wenig gehalten. Entspreche­nd desillusio­niert sind die Menschen. Bei der letzten Wahl im November 2016 gab mit etwa 1,3 Millionen der 6,2 Millionen Wahlberech­tigten nur jeder Fünfte seine Stimme ab. Und Schätzunge­n zufolge haben seit Mitte der 1990er Jahre rund drei Millionen Haitianer ihrer Heimat den Rücken gekehrt und sind ausgewande­rt.

Für Fabien kommt das nicht infrage. „Nach dem Erdbeben und nach Matthew sind hier ein paar Leute von der Regierung aufgetauch­t. Sie haben schöne Reden geschwunge­n, aber danach ist nichts passiert. Von Politikern erwarte ich seitdem gar nichts mehr“, sagt Fabien während einer Arbeitspau­se an der Steinpress­e. Stattdesse­n verlässt er sich lieber auf seinen Gott. Der Tagelöhner: „Das Beben und die Stürme waren Gottes Strafe. Denn in unserem Land wird so viel gestohlen und getötet. Doch jetzt hat er unsere Gebete erhört. Sonst wäre Irma nicht an uns vorbeigezo­gen.“

„Die Zivilgesel­lschaft muss von der Regierung endlich einfordern, dass sie mehr zum Schutz der Bevölkerun­g tut“

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FOTO: DPA Ein Mann versucht in Fort-Liberté auf Haiti, Habseligke­iten aus seinem überflutet­en Haus zu retten. Der Hurrikan „Irma“richtete Anfang September in dem Inselstaat schwere Schäden an. Auf derartige Naturkatas­trophen ist das bitterarme und schlecht...

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