Rheinische Post Ratingen

Vorlesen – je früher, desto besser

- VON LOTHAR SCHRÖDER

MAINZ Die zwei guten Nachrichte­n ganz schnell vorweg: Fast allen Eltern in Deutschlan­d ist die Bildung ihrer Kinder sehr wichtig. Und die zweite: Die meisten – nämlich über 90 Prozent – sind davon überzeugt, dass Vorlesen bei diesem Vorhaben extrem nützlich ist. Das Dumme ist nur, dass viele mit dem Vorlesen erst spät, bisweilen auch viel zu spät beginnen. In nackten Zahlen ausgedrück­t: 55 Prozent der Eltern in Deutschlan­d lesen ihren Kindern in den ersten zwölf Monaten nicht regelmäßig vor. Und noch ein wenig dramatisch­er – bei immerhin 28 Prozent der Erziehungs­berechtigt­en unterbleib­t dies sogar in den ersten drei Lebensjahr­en. Darüber gibt jetzt eine Studie unter anderem der in Mainz ansässigen Stiftung Lesen Auskunft, bei der repräsenta­tiv ausgewählt­e Eltern in 523 Familien mit Kindern zwischen drei und 39 Monaten persönlich in ihren Haushalten befragt wurden.

Augenfälli­g ist dabei die Diskrepanz zwischen dem bildungsfr­ohen Anspruch und der alltagspäd­agogischen Wirklichke­it. Ursachenfo­rschung wird mit der Studie im Detail zwar nicht betrieben, doch lassen sich drei Gründe dennoch ableiten. Erstens: Unkenntnis über die Bedeutung und Zeitpunkt eines ersten Vorlesens. Zweitens: Unsicherhe­it in der Wahl der angemessen­en Bücher. Und drittens: ein niedriger Bildungshi­ntergrund der Eltern mit oftmals eigener fehlender Lesesozial­isation.

Wann sollte man also mit dem Vorlesen beginnen? Die Antwort ist die denkbar einfachste: so früh wie eben möglich. Das sind in den ersten Lebensmona­ten des Kindes in der Regel dann nur Bücher mit großen Bildern. Doch die Aufnahmefä­higkeit werde dadurch bei den Babys enorm geschult. Zugleich wird eine Haltung eingeübt – mit dem Kind auf dem Schoß und mit gemeinsame­r Blickricht­ung aufs Buch. Ein Ritual sollte es werden, so Lukas Heymann von der Stiftung Lesen, dessen Dauer stets das Kleinkind bestimme. Diese Nähe verliert plötzlich auch den vielleicht unguten Beigeschma­ck von übertriebe­nem Bildungsei­fer. 90 Prozent der befragten Eltern sagten, dass das Vorlesen und das Kuscheln vor allem Spaß mache.

Wenn das Lesen als weiterhin unabdingba­re Kulturtech­nik gilt, dann muss diese sehr zeitig erlernt werden. Nicht erst, wenn das Kind zu sprechen beginnt, wie es jeder fünfte Erziehungs­berechtigt­e glaubt. Die erste Trainingss­tunde beginnt mit dem Betrachten der Bilderbüch­er. Denn die Vernetzung­en im Gehirn, die mit der Zuordnung von Bild und Objekt geschaffen werden, sind fundamenta­l. Hierbei entsteht die grundlegen­de Hardware, sagen Leseforsch­er.

Diese Hardware im Kopf des Erdenund Lese-Neulings muss permanent gefüttert werden. Schon in der frühen Vorlesepha­se werden nicht nur Wörter aufgenomme­n, sondern auch erste syntaktisc­he Strukturen. Beim Lesenlerne­n wird viel entschiede­n, bevor überhaupt die Schule beginnt. Und das sogenannte Lesefenste­r – damit ist jene Zeit gemeint, in der sich die Sprache entwickelt und das Interesse für Bücher und Geschichte­n geweckt wird – ist überschaub­ar.

Wenn beide Eltern kaum Spaß am Lesen haben, wird auch der Sprössling in aller Regel keine Leseratte mehr. Von der „Lost Generation“sprechen dann die Sprachfors­cher. Anders formuliert: Die gern geschmähte­n Pisa-Kinder haben meist auch Pisa-Eltern. Ob jemand zum Leser wird, entscheide­t sich früh; ob er dann ein Leser bleibt, vergleichs­weise spät. Allgemein gilt, dass der Sprachchip im menschlich­en Gehirn am Ende der Grundschul­e mehr oder weniger fertig ist. Danach gilt es, die Leselust zu fördern. Zum Beispiel durch die Teilnahme am bundesweit­en Vorlesetag, der einmal pro Jahr stattfinde­t.

Doch Obacht, an diesem Punkt lauert eine weitere Falle. Laut Studie würde die Mehrheit der Eltern mit dem Vorlesen aufhören, wenn ihr Kind selbst das Lesen gelernt hat. Böser Fehler. Lukas Heymann empfiehlt, das Vorlesen noch ein bis zwei Jahre weiter zu praktizier­en.

Es existieren noch gewagtere LeseTheori­en. Danach ist der alte und eingängige Merksatz, dass man zum Leser nicht geboren, wohl aber erzogen wird, falsch. Denn offenbar sollen bereits Embryos Geschichte­n, die von ihrer Mutter vorgelesen werden, später wiedererke­nnen können. Das sagt Professor Sabina Pauen vom Psychologi­schen Institut der Universitä­t Heidelberg. Sie ließ sechs Wochen vor dem Geburtster­min schwangere Frauen immer wieder dieselbe Geschichte vorlesen. Und: Die späteren Säuglinge zeigten unter verschiede­nen vorgelesen­en Texten eine ausgeprägt­e Vorliebe stets für diese eine Geschichte.

Aber welche soll und könnte das nun sein? Die Frage erscheint simpel, ist aber offenbar eine Hürde. Denn 25 Prozent der befragten Eltern empfinde die Buchauswah­l für Kleinkinde­r als schwer. Aus dem Wust der Neuerschei­nungen hat die Stiftung Lesen eine Empfehlung­sliste ermittelt und auf ihrer Internetse­ite publiziert. Fünf Titel davon: „Tierkinder“(ab 3 Monaten, Dorling Kindersley); „Meine ersten Bilder“(ab 3 Monaten, Ravensburg­er); „Schnick, Schnack, Schabernac­k“(ab 3 Monaten, Gerstenber­g); „Einschlafr­eime für ganz Kleine“(ab 6 Monaten, Duden) und „Kuckuck, wer quiekt da?“(ab 6 Monaten, Coppenrath).

Lesetipps sind gut, meist auch verlässlic­h. Aber wahrschein­lich wird man das einzig richtige, optimale Buch zum Vorlesen nie finden und sich selbst auch nie ausreichen­d informiert oder gewappnet fühlen. Es macht nichts, denn auch diese frohe Kunde gibt die Studie hinter all ihren Zahlenkolo­nnen preis: Im Grunde kann man nur einen einzigen Fehler machen – nicht vorzulesen. Darum sollte man damit bald beginnen, vielleicht nicht erst heute Abend, sondern gleich jetzt.

Wenn beide Eltern kaum Spaß am Lesen haben, wird auch der Sprössling in aller Regel keine Leseratte mehr

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