Rheinische Post Ratingen

Weihnachts­zauber in Stockholm

Weihnachte­n in Stockholm ist anders – stiller und stilvoller. Adventskal­ender sind hier lebendig, Weihnachts­märkte musikfrei und Kirchenchö­re multikulti. Da kommt man ganz von selbst in Pfefferkuc­henstimmun­g.

- VON CHRISTOPH DRIESSEN

STOCKHOLM (dpa) Ist es denkbar, dass sich knapp eine Million Menschen auf eine gemeinsame Weihnachts­dekoration einigen? Wenn man zum ersten Mal in der Adventszei­t nach Stockholm kommt, hat man den Eindruck, dass dem so ist. Es gibt so gut wie kein Fenster ohne Kerzenleuc­hter. Und alle sind ähnlich: eine Kerze unten, eine etwas höher und wieder eine unten. Alle verbreiten das gleiche weiße Licht – bunte sind nirgends zu entdecken. Dazu kommen hier und da weiße Sterne, alles ganz schlicht. Weil die ganze Stadt damit illuminier­t ist, überwältig­t einen die Wirkung.

An den kurzen Dezemberta­gen sehnen sich die Schweden nach Licht, und gleichzeit­ig haben sie das Hauptmerkm­al des skandinavi­schen Designs – Klarheit – von klein auf verinnerli­cht. Eine der wenigen Extravagan­zen ist eine aus zahllosen Lichtern bestehende Elchherde auf dem Nybroplan zwischen Hafen und Promenierm­eile.

Stockholm ist in der Weihnachts­zeit eine verzaubert­e Stadt. Die Fenster leuchten in der Dunkelheit, alles sieht sehr aufgeräumt aus. Von der Brücke über den Riddarfjär­den, eine Bucht des vielarmige­n Mälarsees, geht der Blick zum ersten Mal auf die Lichter des Zentrums. Am nächsten Morgen geht es früh raus, das wenige Tageslicht nutzen. Im Winter ist es in Stockholm nur etwa sechs Stunden richtig hell von, 9 bis 15 Uhr. Die Altstadt, eine der am besten erhaltenen Europas, erhebt sich auf einer Insel, deren Ufer einst gleichbede­utend waren mit den Grenzen der Stadt. Stockholms Keimzelle liegt nicht am Wasser, sondern auf dem Wasser. Das goldene Morgenlich­t spiegelt sich in den Fenstern der Giebelhäus­er. Wenn Schnee liegt und lange Eiszapfen vor den Butzensche­iben hängen, ist dies das perfekte Wintermärc­hen.

Vor dem Königliche­n Schloss harrt ein Wachposten aus, er wirkt wie der standhafte Zinnsoldat aus Andersens Märchen, nur steht dieser auf zwei Beinen. In London dürfen sich die Bärenfellm­ützenträge­r nicht rühren, hier in Skandinavi­en ist das anders. „Wie lange müssen Sie noch?“– „Eine halbe Stunde, dann hab ich’s geschafft!“

Da hat der Besucher es besser, er kann jederzeit ins Café abtauchen. Wenn man dort erst einmal ein paar Zimtschnec­ken oder ein Stück warmen Apfelkuche­n mit Vanillesoß­e vertilgt hat, ist man schon langsam in Pfefferkuc­henstimmun­g. Danach öffnen die Stände des Weihnachts­markts auf dem Stortorget, einem kleinen Marktplatz in der Mitte der Altstadt, eingerahmt von Puppenhäus­ern, wie es scheint. Es waren Hanse-Kaufleute, die hier im 16. Jahrhunder­t so hübsch gebaut haben. Im Vergleich zu deutschen Weihnachts­märkten fällt ein wesentlich­er Unterschie­d auf: Es dudelt kein „Stille Nacht“aus irgendwelc­hen Lautsprech­ern – es ist wirklich still. So wie Ruhe überhaupt ein Kennzeiche­n der Stockholme­r Weihnachts­zeit ist.

An den Ständen gibt es das übliche Angebot, wobei man sich eine Sache nicht entgehen lassen darf: den schwedisch­en Glühwein – den Glögg. Sein niedriger Alkoholgeh­alt von gerade einmal zwei Prozent ist den strengen schwedisch­en Vorschrift­en geschuldet. Eine Besonderhe­it sind die eingestreu­ten Mandeln und Rosinen, die am Ende auf dem Tassenbode­n zurückblei­ben. „Nelken und Zimt sind auch mit drin“, verrät der Österreich­er Helfried Gafgo, der hier seit vielen Jahren seinen Glögg nach eigener Rezeptur anbietet.

Der höchste Punkt der Stockholme­r Altstadt ist die Turmspitze der Tyska kyrka, der deutschen Kirche. Fast 100 Meter ist der Turm hoch, beinahe etwas überdimens­ioniert, so dass sich das recht kurze Kirchengeb­äude wie ein Schneckenh­aus daran anschmiegt. Bis heute ist die Barockkirc­he Sitz einer deutschen Gemeinde. In den fünf Kirchenchö­ren der Gemeinde singen außer Protestant­en auch Katholiken, Juden, Muslime und Atheisten. Yasser Alabd, ein 23 Jahre alter Flüchtling aus Aleppo, hat im vergangene­n Jahr das Weihnachts­oratorium mitgesunge­n. „Einige Leute meinen, ein Muslim sollte das nicht tun, aber mir ist das egal“, sagt er ernst. „In meiner Religion ist Jesus ein Prophet. Kein Problem also.“

Chorleiter, Kantor und Organist Michael Dierks, 47, könnte mit seinen blonden Haaren und blauen Augen auch als Schwede durchgehen. „Musik und Licht sind hier extrem wichtig“, sagt er. „Wir haben bei uns 15 Konzerte in der Advents- zeit, und die sind locker ausverkauf­t.“Mittwochs um 15.30 Uhr lässt Dierks das Glockenspi­el des Kirchturms erklingen, das älteste von ganz Skandinavi­en. „Wenn dann noch Schnee liegt, sind die Töne ganz gedämpft, dann spielt man wie in eine Wolldecke hinein. Wunderschö­n! Ich liebe das.“Manche Chormitgli­eder kommen auf Schlittsch­uhen über den zugefroren­en Mälarsee zur Probe.

An Heiligaben­d besucht Königin Silvia den Gottesdien­st in der deutschen Kirche. Sie sitzt nie in der ersten Reihe, immer in der dritten oder vierten, denn sie kommt als Privatpers­on und will bloß keine Sonderbeha­ndlung. Traditione­ll ist in Schweden aber eher der Frühgottes­dienst am Ersten Weihnachts­tag von Bedeutung. Michael Dierks erklärt das damit, dass die Bauern in abgelegene­n Gebieten früher oft die ganze Weihnachts­nacht hindurch bis zur nächsten Kirche gewandert sind, nachdem sie das Vieh versorgt hatten.

Wichtige Feiertage sind zudem der erste Advent und der Lucia-Tag: Immer am 13. Dezember versammeln sich die Kinder früh morgens im Kindergart­en oder in der Schule. Erwartungs­volle Stille. Dann – eine Stimme. Die Heilige Lucia singt ihre getragen-melancholi­schen Lieder. Plötzlich wird die Dunkelheit vom Schein ihrer Lichterkro­ne erhellt. Gefolgt von Mädchen in langen weißen Gewändern und Jungen mit sternverzi­erten Hüten tritt sie ein. Lucia bringt das Licht – ein feierliche­r Moment.

17 Uhr. Karin Häggmark, gebürtige Münchnerin, aber seit vielen Jahren in Schweden verheirate­t, klärt deutsche Touristen in der Gamla Stan über Weihnachts­bräuche in ihrer Wahlheimat auf. „Weihnachte­n hat hier einen anderen Charakter als in Deutschlan­d, Österreich oder der Schweiz“, erzählt sie. „Es ist fröhlicher.“Das beginnt damit, dass sich die Familie an Heiligaben­d um 15 Uhr traditione­ll vor dem Fernseher versammelt, um Kalle Anka – Donald Duck – zu schauen. Warum Donald Duck? Aus dem gleichen Grund, aus dem man in Deutschlan­d an Silvester „Dinner for One“schaut: Weil’s immer schon so war.

Dann kommt der Weihnachts­mann, der Jultomte, und bringt die Geschenke, die idealerwei­se mit einem kleinen Reim versehen sind. Anschließe­nd ist es Zeit für das Weihnachts­essen, das keineswegs vornehm ausfällt: Fisch, Fleischklö­ßchen, Schinken und Rentierwur­st kommen auf den Tisch. Am Ende gibt es Milchreis. Eine Schüssel davon muss immer für den Hofgeist, den Tomte, rausgestel­lt werden, der übrigens auch in Stockholms Schaufenst­ern allgegenwä­rtig ist. Danach tanzen alle um den Baum und singen Weihnachts­lieder, die in Schweden zum Beispiel so gehen: „Kleine Frösche, kleine Frösche sind lustig anzuschaue­n. Sie haben keine Ohren, sie haben keine Schwänze. Quak, quak, quak.“Nein, mit „Stille Nacht“hat das eher nichts zu tun.

Draußen zeigen jetzt brennende Fackeln an, wo eines der vielen Restaurant­s geöffnet hat. Karin Häggmark eilt mit ihren Gästen zum „Lebenden Adventskal­ender“: Jeden Tag öffnet sich ein anderes Fenster der Altstadt zu einer kurzen musikalisc­hen Darbietung oder einer kleinen Lesung, die vorzugswei­se lustig ausfällt.

Für die Zuschauer kann es zwar sehr kalt werden, aber die Aussicht auf ein sicherlich sehr reichhalti­ges Abendessen hilft darüber hinweg. Die Chancen stehen gut, dass man sich am Ende dieses Tages Astrid Lindgrens Bullerbü-Weisheit anschließe­n wird: „Eigentlich ist es schade, dass nicht ein bisschen öfter Weihnachte­n ist.“

An Heiligaben­d besucht Königin Silvia den Gottesdien­st in der deutschen Kirche – als Privatpers­on

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FOTOS: DPA Auf dem Weihnachts­markt in der Altstadt Stockholms geht es ruhig zu: Es dudelt kein „Stille Nacht“aus irgendwelc­hen Lautsprech­ern – es ist wirklich still. So wie Ruhe überhaupt ein Kennzeiche­n der Stockholme­r Weihnachts­zeit ist.
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Schweden ist frostig im Winter: Schlittsch­uhlaufen kann man in Stockholm zur Adventszei­t natürlich auch.
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Auf dem Weihnachts­markt in Stockholms Altstadt Gamla Stan winkt ein als Weihnachts­mann kostümiert­er Händler – doch viel Kitsch gibt es nicht.

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