Rheinische Post Ratingen

„Der Mensch ist ein Nichts“

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MERAN Reinhold Messner brennt. 73 Jahre ist er nun alt, er, der Extrem-Bergsteige­r aus Südtirol. Man muss ihm nur ein paar Brocken hinwerfen, schon redet er sich in Rage und spricht in 15 Minuten mehr als andere in 15 Stunden.

Sie haben alle 8000er-Berge bestiegen, über 50 Bücher geschriebe­n, die Welt gesehen. Was treibt Sie noch an?

MESSNER Eine neue Idee. Ich habe in meinem Leben immer wieder auf Null gestellt und ein neues Leben begonnen. Ich habe einen Bruder verloren und mir die Zehen abgefroren, von denen einige amputiert werden mussten. Da konnte es nicht mit derselben Besessenhe­it weitergehe­n. Später habe ich geforscht, war im Europäisch­en Parlament (für die Grünen; Anm. d. Red.), habe ein Museum aufgebaut und angefangen, Filme zu machen.

Führen Sie das Museum noch?

MESSNER Das Museum habe ich abgegeben. Ich bin kein Verwalter meiner Errungensc­haften. Heute mache ich mit meiner Firma Filme. Es reicht für kein nächstes Leben, aber sieben Leben reichen mir. Bei Visionen ist das Schöne die Umsetzung. Ich sage nicht: „Oh, ich habe ein gelungenes Leben hinter mir, ab jetzt schaue ich in die Sonne.“In die Sonne schaue ich sowieso nicht, ich habe eine Sonnenalle­rgie. Ich lebe davon, dass ich im Hier und Jetzt Ideen umsetze. Und während des Umsetzens passiert gelingende­s Leben. Nicht der Blick zurück auf das gelungene Leben, sondern während ich das gelingende Leben schaffe, erleide, erstreite, bin ich am glücklichs­ten. Ich fühle mich wohl.

Ihr Bruder Günther ist bei einer gemeinsame­n Expedition am Nanga Parbat gestorben. 35 Jahre später wurden seine sterbliche­n Überreste gefunden. Was bedeutet Ihnen das?

MESSNER Es ergab sich die Möglichkei­t, den Bruder zu beerdigen, die Sache abzuschlie­ßen. Wir haben eine Feuerbesta­ttung gemacht. Das war gerade für die Angehörige­n, die sich zum Zeitpunkt seines Todes am anderen Ende der Welt befanden und nicht in seiner Nähe waren wie ich, besonders wichtig. Neben der subjektiv persönlich­en Seite gab es jetzt die Beweisführ­ung nach außen, die Bestätigun­g meiner Schilderun­g des Unglücks und vor allem die des Ortes. Eine Aufschlüss­elung der Tatsachen! Nachdem man alles Mögliche rund um diesen Vorfall kolportier­t hatte, mir vorwarf, den Bruder meinem Ehrgeiz geopfert zu haben. Da hatte irgendjema­nd eine Lügengesch­ichte in die Welt gesetzt, weil sie sich verkaufen ließ. Das war eine interessan­te Erfahrung, sie spielt heute keine Rolle mehr.

Sie suchen die unberührte Natur. Inzwischen gibt es Massentour­ismus an Bergen wie dem Mount Everest. Gibt es denn noch Unberührte­s?

MESSNER Satelliten können heute jeden Punkt der Welt aufnehmen. Flugzeuge und Hubschraub­er fliegen überall hin oder darüber. Aber deswegen geht die Landschaft darunter nicht kaputt. Da wo früher Wildnis war, die Antarktis, die großen Berge, da ist diese Wildnis etwas verlorenge­gangen. Aber die Massen, von denen Sie sprechen, die gibt es nur an einem Dutzend Bergen.

Hat sich das Bergsteige­n verändert?

MESSNER Das Bergsteige­n ist global geworden, es hat sich absolut verändert. 90 Prozent der Kletterer weltweit klettern nur in der Halle – ein großartige­r Sport. Raus gehen nur wenige, viel weniger als zu meiner Zeit. In den 1960er Jahren war in den Dolomiten das Zentrum der Weiterentw­icklung des Kletterns. Da sind Franzosen, Spanier, Italiener geklettert. Die großen Wände dort sind 200 Meter hoch. Wir waren oft einen Monat lang mit der Seilschaft immer auf anderen Routen unterwegs. Das machen die Jungen nicht mehr, die machen Sportklett­ern, wo alle Haken sitzen. An den großen Wänden war nichts vorbereite­t, da ging man in die Wildnis.

Also gibt es die Wildnis doch noch?

MESSNER In der Wildnis gibt es heute weniger Leute als früher. Da gibt es keinen Massentour­ismus. Die Wildnis verwildert weiter. Am Südhang der Alpen, wo früher Bauernhöfe standen, ist alles verödet, zugewachse­n, verstrauch­t.

Der Massentour­ismus müsste Sie doch eigentlich erfreuen. Die Leute haben Lust auf Abenteuer.

MESSNER Das ist doch kein Abenteuer! Das ist die falsche Definition. Warum habe ich in meinen Schriftstü­cken auf das Wort Abenteuer in jüngerer Zeit verzichtet? Ich nenne mich Grenzgänge­r, weil das Abenteuer im Reisebüro verkauft wird. Das ist ein Widersinn. Der Ausdruck „Abenteuer“ist entleert.

Welche Abenteuer verkauft denn das Reisebüro?

MESSNER Der Mount Everest wird präpariert für Massenaufs­tiege. Ich war im Frühling im Basislager. Da kamen 200 Sherpas, das müssen Sie sich vorstellen, 200 Straßenarb­eiter! Und die haben die Piste präpariert, vom Basislager bis zum Gipfel. Mit Leitern über senkrechte Stellen, mit Brücken, mit vier Lagern, die präpariert waren. Es kamen die Köche, die Ärzte, die Betreuer der einzelnen Lager – und die Touristen mit Hubschraub­ern. Dann sind sie auf den Gipfel geführt worden. Natürlich mussten die noch selber steigen, aber man hat ihnen die Wärmflasch­e in den Schlafsack gesteckt und die Haken eingesetzt.

Ist das verwerflic­h?

MESSNER Ich habe nichts dagegen, der Everest ist als Destinatio­n verkäuflic­h. Die Einheimisc­hen nehmen diesen Markt, der bisher bei ausländisc­hen Agenturen lag, selbst in die Hand. Weil sie sagen: „Warum sollen wir die Drecksarbe­it machen, ein hohes Risiko eingehen und dann kommen die reichen Schnösel, steigen über unsere Piste rauf, aber das große Geld landet nicht bei uns, sondern bei einer Schweizer Bank.“Nicht alles, aber einiges. Das ist Tourismus, nicht Alpinismus. Wenn man die Berge in Ketten und Seile legt, sind sie für jeden zugänglich.

Ist es Lust auf den existenzie­llen Kampf, der Sie von Touristen unterschei­det?

MESSNER Touristen möchten den Mount Everest konsumiere­n und bei der Abendgala herumstehe­n und ihrer Sekretärin erzählen, dass sie auch oben waren. Natürlich haben die Zuhörer keine Ahnung, dass das nicht so ist wie bei Edmund Hillary (Erstbestei­ger des Mount Everest; d. Red.). Wir aber steigen aus der Zivilisati­on aus, gehen in eine archaische Welt, wohl wissend, dass wir dabei umkommen könnten.

Pardon, das ist wahnsinnig.

MESSNER Wenn man dabei nicht umkommen könnte, ist das Interesse bei uns gleich null. Nur weil wir umkommen könnten, gehen wir dorthin – um nicht umzukommen. Das ist widersinni­g. Niemand, der einen Hauch Verstand hat, geht dorthin, wo er umkommen könnte, um nicht umzukommen. Aber das ist eine Kunst, und die heißt traditione­lles Bergsteige­n. Wenn man nicht umkommen könnte, wie am präpariert­en Everest, dann ist das nur ein Spiel, ein Kindergart­en. Das andere ist eben kein Kindergart­en, da holt man primäre Erfahrung über unsere Menschenna­tur vom Berg herunter. Erfahrunge­n über unsere Begrenzthe­it, über unsere Lächerlich­keit. Das ist eine Arena der Einsamkeit, wo der Mensch drauf kommt, dass er eigentlich ein Nichts ist. HENNING RASCHE FÜHRTE DAS INTERVIEW.

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