INFO Aus Wermelskirchen in die Welt der Politik
Zwischen zwei Sondierungsrunden über Jamaika findet FDPChef Christian Lindner am Mittag Zeit für ein Gespräch. Er will „Jamaika“durch „Kleeblatt“ersetzen. Gefunden haben CDU, CSU, FDP und Grüne ihr Glück aber noch nicht.
Sie kommen gerade von den Sondierungen zu Bildung und Digitalem – Schwerpunkte Ihres Wahlkampfes. Können Sie Erfolge melden?
LINDNER Es gibt ein gemeinsames Verständnis, dass Bildung neue Priorität bekommen und dass Deutschland die Digitalisierung mit mehr Tempo angehen muss. Unsere Anregung ist dabei, das lebensbegleitende Lernen zu fördern und neu zu organisieren, um den Menschen Sicherheit im Wandel zu geben. Das ist die beste Antwort auf Angst vor Arbeitslosigkeit. Uneinig sind wir uns beim Bildungsföderalismus. Wir wollen mehr Vergleichbarkeit und gesamtstaatliche Finanzierung, das wird bei der Union traditionell anders gesehen.
Wo hakt es bei den anderen Themen besonders?
LINDNER Große Unterschiede haben wir weiterhin bei Energie und Einwanderung. Die FDP bekennt sich zum Klimaschutz. Aber wir haben die Frage, wie die CO2-Einsparziele für das Jahr 2020 ohne soziale Härten und ohne Verlust an Versorgungssicherheit erreicht werden sollen. Da geht es nicht um Politik, sondern um Physik.
Die CSU sieht die Sondierungen erst am Anfang; man sei noch beim Studium der Reisekataloge.
LINDNER Tatsächlich stehen wir noch vor notwendigen Klärungen. Für die FDP ist zum Beispiel klar, dass Deutschland eine andere Einwanderungspolitik bekommen muss. Das ist die Botschaft des Ergebnisses der Bundestagswahl. Wir haben mit Respekt die Bewegung bei CDU und CSU wahrgenommen. Was die Union als ihren Kompromiss zur Ordnung in der Einwanderung vorgestellt hat, entspricht an vielen Stellen dem, was wir vor der Wahl gefordert haben. Für Flüchtlinge wollen wir die Zeit des Aufenthalts jedoch klarer begrenzen, die Hürden für qualifizierte Einwanderer wären bei den Ideen der Union nach unseren Vorstellungen zudem noch zu bürokratisch. Die größten Unterschiede sehe ich aber unverändert zu den Grünen.
Also ein Appell an die Grünen, sich hier zu bewegen?
LINDNER Die Grünen vertreten insbesondere beim Familiennachzug Positionen, für die sie bei der großen Mehrheit der Bevölkerung gegenwärtig keine Akzeptanz finden. Deutschland ist an der Grenze dessen, was die Mehrheit an humanitärer Hilfe bereitstellen will. Wir sind zudem an der Grenze dessen, was an Integration, etwa in Schulen und beim Wohnraum, geleistet werden kann. Realismus kann man keiner Koalitionsbereitschaft opfern.
CDU-Staatssekretär Jens Spahn legt das Ende der Rente mit 63 vor. Wie sehen Sie das?
LINDNER Spannender wäre doch zu wissen, wie die CDU dazu steht. Wir haben die Rente mit 63 stets kritisch gesehen, weil wir ein anderes Rentensystem mit mehr Flexibilität wollen.
Bekommen Sie das mit den Sondierungspartnern hin?
LINDNER Dafür ist es noch zu früh. Wir wollen Flexibilität statt Stillle- gungsprämien für hochqualifizierte Fachkräfte. Die Menschen sollen selbst bestimmen, wann sie in den Ruhestand eintreten und welche neuen Beschäftigungsformen sie wollen. Natürlich kann ein Dachdecker mit Mitte 60 nicht mehr auf dem Dach stehen, aber er kann weiter ausbilden, wenn er das möchte. Wir müssen darüber sprechen, was für die Menschen attraktiv ist.
In NRW gibt es Schwarz-Gelb, in Hessen Schwarz-Grün, in SchleswigHolstein Schwarz-Gelb-Grün. Hilft das für erfolgreiche Gespräche?
LINDNER Auf der Bundesebene geht es um ganz andere Fragen. Weder in Düsseldorf noch in Wiesbaden oder in Kiel wird über die weitere Entwicklung der Europäischen Union entschieden. Das aber ist ein Schlüsselthema für die Sondierungen. Die FDP möchte, dass wir die Chance, die sich mit der Wahl von Emmanuel Macron in Frankreich ergeben hat, nun aktiv nutzen. Beispielsweise sollten wir für die Streitkräfte eine europäische Lösung finden. Das ist der positive Nebeneffekt des Brexit: Die Bremser der verstärkten Sicherheits-Zusammenarbeit sind weg. Jetzt können wir herangehen an die Stärkung von Europol zur Kriminalitätsbekämpfung und an neue Verteidigungsstrukturen. Dafür gibt es große Gemeinsamkeiten unter den Verhandlern.
Auch beim Geld?
LINDNER Uns geht es um die finanzpolitische Eigenverantwortung jedes Staats. Wir wollen gerne Investitionen im Euro-Raum erleichtern. Falls dafür Geld fehlt, können wir darüber sprechen. Aber gemeinsame Haftung, gemeinsame Risiken, egal ob bei den Staatsschulden oder den Einlagen unserer Sparkassen, Volksbanken oder privaten Banken, da gibt es für die FDP keine Bewegungsmöglichkeit.
Was kristallisiert sich als zentrale Botschaft einer Jamaika-Koalition heraus?
LINDNER Dazu ist es zu früh. Nach der großen Koalition müsste aber die Zeit der Verwaltung des Status quo beendet werden. Darin stimmen wir mit den Grünen überein, aber die Richtung der Veränderung ist noch nicht dieselbe.
Motto von Jamaika wäre „Deutschland neu gestalten“?
LINDNER Das weiß ich nicht. Aber jede neue Regierung müsste sich auf diesen Kurs begeben, denn die Reformeffekte der Agenda 2010 sind verbraucht und müssen erneuert werden. Ich halte übrigens wenig von dieser Jamaika-Metapher. Besonders, wenn man sich die wirtschaftlichen Kennzahlen des Inselstaats anschaut. Ich bevorzuge das Kleeblatt: Vierblättrige Kleeblätter sind selten, aber wenn man sie findet, ein Glücksfall.
Nach so vielen Stunden mit denselben Verhandlern – wem möchten Sie an Halloween Süßes, wem Saures geben?
LINDNER Man fährt gut damit, Süßes und Saures gerecht zu verteilen. Wir haben zu jedem aus den anderen Privat 1979 geboren in Wuppertal und aufgewachsen in Wermelskirchen, meldet Christian Lindner schon als Abiturient sein erstes Gewerbe an. Um das nicht aufgeben zu müssen, macht er Zivildienst, bewirbt sich später aber bei der Freiwilligenarmee. Er ist Hauptmann der Reserve der Luftwaffe. Politik Mit 18 tritt Lindner in die FDP ein. Parallel zum Studium in Bonn (Politikwissenschaft, Staatsrecht, Philosophie) wird er 2000 als jüngster Abgeordneter in den NRW-Landtag gewählt. 2009 zieht Lindner in den Bundestag ein – bis zum Ausscheiden der FDP 2013. Ein neues Präsidium wird gewählt – und Lindner als Parteichef. drei Parteien Gemeinsamkeiten und Trennendes.
Jürgen Trittin von den Grünen sollte ursprünglich nicht dabei sein – welchen Eindruck haben Sie nun von ihm?
LINDNER Er ist ein professioneller Verhandler. Bei der Notwendigkeit einer finanziellen Entlastung der Mitte und dem Verzicht auf Schulden ist er nicht restlos überzeugt. Andererseits hat er die Forderung des linken Flügels der Grünen nach Vermögen- und mehr Erbschaftsteuer gar nicht vorgebracht. Ich schätze diesen neuen Realismus.
Wenn Sie Ende der Woche einen Schluss ziehen: Kann es gelingen?
LINDNER Derzeit werden unsere Gespräche geprägt von Obersätzen, unter die wir schreiben, um welche Themen es im Einzelnen geht. In der ersten Phase sind wir noch gar nicht an die Lösung von Konflikten herangekommen. Deshalb sehe ich die Chance für Jamaika immer noch bei fifty-fifty. Es läuft zwar atmosphärisch besser und konstruktiv und an mancher Stelle auch mit gemeinsamen Überzeugungen, aber ob die unterschiedlichen Programme und der teils widersprüchliche Wählerwille zusammengebaut werden können, wird auch am Ende dieser Woche endgültig noch nicht zu sehen sein. GREGOR MAYNTZ FÜHRTE DAS GESPRÄCH.