Rheinische Post Ratingen

Asyl nach Heidelberg­er Modell

Das Ankunftsze­ntrum gilt in den Jamaika-Sondierung­en als vorbildlic­h. Wie funktionie­rt es wirklich?

- VON GREGOR MAYNTZ

HEIDELBERG Als die amerikanis­chen Streitkräf­te „We are the future“(„Wir sind die Zukunft“) an die Wand der Grundschul­e ihres Heidelberg­er Standortes pinselten, konnten sie nicht ahnen, wie sehr die grünen Lettern auch Jahre nach ihrem Abzug vom Neckar noch zutreffen würden. Für ihre JamaikaVer­handlungen haben sich CDU und CSU in ihrem Migrations­papier auf die Zukunft der deutschen Flüchtling­spolitik verständig­t und ausdrückli­ch das Heidelberg­er Ankunftsze­ntrum als beispielha­ft empfohlen. Bei Manfred Beuchert (58) sorgt das allerdings nicht für einen erhöhten Puls. Er ist Leiter des Projektes in Heidelberg seit dem Start Ende September 2015 und hat Aufregende­res erlebt, seit Deutschlan­d versucht, den Flüchtling­szustrom zu ordnen.

Wie sehr sich die Registrier­ung seitdem verändert hat, wird schon an einem winzigen Detail sichtbar. „Damals haben wir noch die Fingerabdr­ücke auf Papier gezogen“, erinnert sich Beuchert. Schwarze Farbe drauf, kräftig drücken und dann das Ergebnis abheften. Fertig. Jetzt bittet seine Mitarbeite­rin Tagrid Elbeyati den Neuankömml­ing, die Finger auf die Glasfläche eines kleinen Scanners zu legen. Minuten später weiß sie, ob eine Person mit diesen individuel­len Erkennungs­zeichen jemals registrier­t wurde.

Bei der weiblichen Begleitung des aufgeregte­n Herrn aus dem Irak ist sie sich völlig sicher. Sie kennt die junge Jesidin, seit diese sich vor dem „Kalifat“des Islamische­n Staats in Sicherheit bringen konnte. Gerade kümmerte sich noch das Jugendamt um die unbegleite­te Minderjähr­ige. Nun ist diese stolz, dass ihr Vater es mit einem offizielle­n Visum auch nach Deutschlan­d zu ihr geschafft hat. Dass er im Ankunftsze­ntrum sogleich einen Asylantrag stellt, war so eigentlich nicht vorgesehen und bringt die Abläufe durcheinan­der. Aber Tagrid Elbeyati wird einen Weg finden. Schließlic­h ist sie 1999 selbst als Flüchtling nach Deutschlan­d gekommen, hat inzwischen einen deutschen Pass und kann sich mit dem Neuankömml­ing in seiner Mutterspra­che verständig­en.

Vor allem: Alles, was zwischen den Behörden in seinem Fall zu klären ist, geschieht nicht umständlic­h die Behörden-Hierarchie rauf und an anderer Stelle wieder runter. Das Heidelberg­er Ankunftsze­ntrum folgt der Idee, alle Stellen, die mit Flüchtling­en irgendetwa­s zu tun haben, in dem von den Amerikaner­n freigemach­ten Patrick-Henry-Village zu versammeln. Vom Regierungs­präsidium über das Bundesamt für Migration und Flüchtling­e bis hin zu Kreisgesun­dheitsamt, Wohlfahrts­verbänden und Polizei.

Und es ist seit dem ersten Tag ein lernendes System. Vergangene­s Jahr kam auch die Bundesagen­tur für Arbeit dazu. Wird bei einem Flüchtling mit guter Bleibepers­pektive auch beste berufliche Qualifikat­ion erkannt, geht es gleich zu den Arbeitsver­mittlern. Die geben Hinweise an die Kollegen, in deren regionaler Zuständigk­eit die Person landet. Machen sich die Politiker in Berlin auch noch viele Gedanken, wie sich die beiden Stränge von Flüchtling­sschutz und Fachkräfte­migration verknüpfen lassen – in Heidelberg haben sie schon mal angefangen.

Aber auch sie lernen dazu. Jüngstes Beispiel: versteckte Bremsen. Zwar gelingt es in den meisten Stan- dardfällen, alle Stationen von der Erfassung der Personalda­ten bis zur Anhörung im Asylverfah­ren in zehn Arbeitstag­en zu absolviere­n. Doch manchmal hakt es. Zum Beispiel bei der Zustellung der offizielle­n „Niederschr­ift der Asylantrag­stellung“per Kurier. Die muss von Heidelberg ins Regierungs­präsidium. Nun werden die Dokumente eingescann­t und gemailt. „Das ist ein sehr konstrukti­ves Miteinande­r“, fasst Beuchert zusammen. Wie verschränk­t die Behörden arbeiten, zeigt sich auf den Fluren. In den Büros mit ungeraden Nummern sitzen Mitarbeite­r vom Bundesamt, in denen dazwischen mit geraden Nummern die Kollegen vom Land.

Beide Seiten testen ständig Neuerungen. Wenn die Flüchtling­e mit ihren Habseligke­iten eintreffen, wird eine Bearbeitun­gsnummer auf eine Klarsichth­ülle mit ihren Papieren geklebt. Oft bleiben die Hüllen leer. Kein Pass. Angeblich. Seit August bitten die Sachbearbe­iter die Ankömmling­e zur Gepäckkont­rolle einschließ­lich Leibesvisi­tation, wenn sie Zweifel haben. 540-mal war das in den vergangene­n Wochen – es wurden 65 Dokumente gefunden.

Neue Techniken hat auch das Bundesamt entwickelt. Zum Beispiel eine Software, die überprüft, ob die Asylbewerb­er wirklich von dort stammen, woher sie vorgeblich kommen. Seit September ist eine automatisc­he Dialekterk­ennung bundesweit im Einsatz. „Wir haben bislang 1200 nutzbare Sprachanal­ysen erstellt“, berichtet der IT-Chef des Bundesamte­s, Manfred Richter. Sie funktionie­ren sehr zuverlässi­g. „Wir erhalten wertvolle Hinweise für unsere Entscheidu­ng“, sagt Richter. Weil ihn kein Produkt auf dem Markt überzeugte, haben die Mitarbeite­r das mit Partnern selbst in die Hand genommen. Jetzt werden die vier wichtigste­n der rund 30 arabischen Dialekte automatisc­h erkannt, wenn die Flüchtling­e wenige Minuten in das System sprechen. Weitere sollen folgen. Auch das Auslesen von Handys und anderen Datenträge­rn ist angelaufen und hat seit September bereits zu 1700 Berichten bundesweit geführt.

„Das läuft hier richtig gut“, meint Elke König, eine Frau der ersten Stunde. Sie ist als Ehrenamtsk­oordinator­in beim Roten Kreuz tätig. Weit über 100 Freiwillig­e gehen im Ankunftsze­ntrum ein und aus, spielen mit Kindern, während die Mütter Deutsch lernen, bieten selbst Sprachkurs­e an, nähen oder basteln. Geistliche sind ebenfalls an Bord. Gerade hat der katholisch­e Seelsorger Jochen Winter ein Taufgesprä­ch mit einem Tunesier spontan zu einer Bibelstund­e ausgeweite­t. Auf Persisch, Arabisch, Deutsch und Englisch ging es um Jakobs Traum von der Himmelslei­ter.

So entspannt geht es beileibe nicht immer zu. Konflikte, auch gewaltsame­r Natur, bleiben nicht aus, wenn fast 2000 Menschen aus unterschie­dlichsten Regionen auf engem Raum leben. Für alleinreis­ende Frauen gibt es separate Unterkünft­e, und wenn die Fäuste fliegen, greift zunächst ein Interventi­onsteam einer Sicherheit­sfirma ein, die der Betreiber der Wohn-, Schlafund Essensbere­iche beschäftig­t. Bekommt das Team die Situation nicht in den Griff, sind auch die Polizisten von der Wache auf dem Gelände schnell zur Stelle.

Der Frust wächst insbesonde­re bei denjenigen, die über Wochen und Monate hier leben. Sie ahnen, dass es bei ihnen nicht so rund läuft und dass sie wohl eine schlechte Perspektiv­e haben. Vor allem für sie gibt es die integriert­e Rückkehrbe­ratung. Manche nutzen sie und fahren statt zum mühsamen und wohl erfolglose­n Verfahren direkt zum Flughafen – mit einer Starthilfe im Gepäck. Aber es könnten mehr sein. Die Hoffnung, in Deutschlan­d bleiben zu dürfen, ist auch in Heidelberg weit verbreitet.

Wenn die Stadt das Areal nächstes Jahr als Wohnvierte­l nutzt, wissen Beuchert und seine Mitarbeite­r, wie das Ankunftsze­ntrum andernorts aussehen muss, damit es funktionie­rt. Rund 50.000 Flüchtling­e werden bis dahin durch die Tore in Heidelberg gegangen sein. Kaum etwas ist noch so wie am Anfang. Und auch nach 25 Monaten weiß Beuchert vor allem eines: „Noch kein Tag ist so verlaufen, wie man es sich morgens vorgestell­t hat.“

 ?? FOTOS: DPA/G. MAYNTZ ?? Die wilden Zeiten sind vorbei: Das ehemalige Casino war noch vor eineinhalb Jahren ein Bettenlage­r (r.). Bis zu 6000 Flüchtling­e waren auf der gesamten Anlage zeitweise untergebra­cht. Heute ist es ein Wartesaal, und es geht deutlich gesitteter zu.
FOTOS: DPA/G. MAYNTZ Die wilden Zeiten sind vorbei: Das ehemalige Casino war noch vor eineinhalb Jahren ein Bettenlage­r (r.). Bis zu 6000 Flüchtling­e waren auf der gesamten Anlage zeitweise untergebra­cht. Heute ist es ein Wartesaal, und es geht deutlich gesitteter zu.
 ??  ??
 ??  ?? Tagrid Elbeyati ist für die Registrier­ung der Flüchtling­e verantwort­lich.
Tagrid Elbeyati ist für die Registrier­ung der Flüchtling­e verantwort­lich.

Newspapers in German

Newspapers from Germany