Asyl nach Heidelberger Modell
Das Ankunftszentrum gilt in den Jamaika-Sondierungen als vorbildlich. Wie funktioniert es wirklich?
HEIDELBERG Als die amerikanischen Streitkräfte „We are the future“(„Wir sind die Zukunft“) an die Wand der Grundschule ihres Heidelberger Standortes pinselten, konnten sie nicht ahnen, wie sehr die grünen Lettern auch Jahre nach ihrem Abzug vom Neckar noch zutreffen würden. Für ihre JamaikaVerhandlungen haben sich CDU und CSU in ihrem Migrationspapier auf die Zukunft der deutschen Flüchtlingspolitik verständigt und ausdrücklich das Heidelberger Ankunftszentrum als beispielhaft empfohlen. Bei Manfred Beuchert (58) sorgt das allerdings nicht für einen erhöhten Puls. Er ist Leiter des Projektes in Heidelberg seit dem Start Ende September 2015 und hat Aufregenderes erlebt, seit Deutschland versucht, den Flüchtlingszustrom zu ordnen.
Wie sehr sich die Registrierung seitdem verändert hat, wird schon an einem winzigen Detail sichtbar. „Damals haben wir noch die Fingerabdrücke auf Papier gezogen“, erinnert sich Beuchert. Schwarze Farbe drauf, kräftig drücken und dann das Ergebnis abheften. Fertig. Jetzt bittet seine Mitarbeiterin Tagrid Elbeyati den Neuankömmling, die Finger auf die Glasfläche eines kleinen Scanners zu legen. Minuten später weiß sie, ob eine Person mit diesen individuellen Erkennungszeichen jemals registriert wurde.
Bei der weiblichen Begleitung des aufgeregten Herrn aus dem Irak ist sie sich völlig sicher. Sie kennt die junge Jesidin, seit diese sich vor dem „Kalifat“des Islamischen Staats in Sicherheit bringen konnte. Gerade kümmerte sich noch das Jugendamt um die unbegleitete Minderjährige. Nun ist diese stolz, dass ihr Vater es mit einem offiziellen Visum auch nach Deutschland zu ihr geschafft hat. Dass er im Ankunftszentrum sogleich einen Asylantrag stellt, war so eigentlich nicht vorgesehen und bringt die Abläufe durcheinander. Aber Tagrid Elbeyati wird einen Weg finden. Schließlich ist sie 1999 selbst als Flüchtling nach Deutschland gekommen, hat inzwischen einen deutschen Pass und kann sich mit dem Neuankömmling in seiner Muttersprache verständigen.
Vor allem: Alles, was zwischen den Behörden in seinem Fall zu klären ist, geschieht nicht umständlich die Behörden-Hierarchie rauf und an anderer Stelle wieder runter. Das Heidelberger Ankunftszentrum folgt der Idee, alle Stellen, die mit Flüchtlingen irgendetwas zu tun haben, in dem von den Amerikanern freigemachten Patrick-Henry-Village zu versammeln. Vom Regierungspräsidium über das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bis hin zu Kreisgesundheitsamt, Wohlfahrtsverbänden und Polizei.
Und es ist seit dem ersten Tag ein lernendes System. Vergangenes Jahr kam auch die Bundesagentur für Arbeit dazu. Wird bei einem Flüchtling mit guter Bleibeperspektive auch beste berufliche Qualifikation erkannt, geht es gleich zu den Arbeitsvermittlern. Die geben Hinweise an die Kollegen, in deren regionaler Zuständigkeit die Person landet. Machen sich die Politiker in Berlin auch noch viele Gedanken, wie sich die beiden Stränge von Flüchtlingsschutz und Fachkräftemigration verknüpfen lassen – in Heidelberg haben sie schon mal angefangen.
Aber auch sie lernen dazu. Jüngstes Beispiel: versteckte Bremsen. Zwar gelingt es in den meisten Stan- dardfällen, alle Stationen von der Erfassung der Personaldaten bis zur Anhörung im Asylverfahren in zehn Arbeitstagen zu absolvieren. Doch manchmal hakt es. Zum Beispiel bei der Zustellung der offiziellen „Niederschrift der Asylantragstellung“per Kurier. Die muss von Heidelberg ins Regierungspräsidium. Nun werden die Dokumente eingescannt und gemailt. „Das ist ein sehr konstruktives Miteinander“, fasst Beuchert zusammen. Wie verschränkt die Behörden arbeiten, zeigt sich auf den Fluren. In den Büros mit ungeraden Nummern sitzen Mitarbeiter vom Bundesamt, in denen dazwischen mit geraden Nummern die Kollegen vom Land.
Beide Seiten testen ständig Neuerungen. Wenn die Flüchtlinge mit ihren Habseligkeiten eintreffen, wird eine Bearbeitungsnummer auf eine Klarsichthülle mit ihren Papieren geklebt. Oft bleiben die Hüllen leer. Kein Pass. Angeblich. Seit August bitten die Sachbearbeiter die Ankömmlinge zur Gepäckkontrolle einschließlich Leibesvisitation, wenn sie Zweifel haben. 540-mal war das in den vergangenen Wochen – es wurden 65 Dokumente gefunden.
Neue Techniken hat auch das Bundesamt entwickelt. Zum Beispiel eine Software, die überprüft, ob die Asylbewerber wirklich von dort stammen, woher sie vorgeblich kommen. Seit September ist eine automatische Dialekterkennung bundesweit im Einsatz. „Wir haben bislang 1200 nutzbare Sprachanalysen erstellt“, berichtet der IT-Chef des Bundesamtes, Manfred Richter. Sie funktionieren sehr zuverlässig. „Wir erhalten wertvolle Hinweise für unsere Entscheidung“, sagt Richter. Weil ihn kein Produkt auf dem Markt überzeugte, haben die Mitarbeiter das mit Partnern selbst in die Hand genommen. Jetzt werden die vier wichtigsten der rund 30 arabischen Dialekte automatisch erkannt, wenn die Flüchtlinge wenige Minuten in das System sprechen. Weitere sollen folgen. Auch das Auslesen von Handys und anderen Datenträgern ist angelaufen und hat seit September bereits zu 1700 Berichten bundesweit geführt.
„Das läuft hier richtig gut“, meint Elke König, eine Frau der ersten Stunde. Sie ist als Ehrenamtskoordinatorin beim Roten Kreuz tätig. Weit über 100 Freiwillige gehen im Ankunftszentrum ein und aus, spielen mit Kindern, während die Mütter Deutsch lernen, bieten selbst Sprachkurse an, nähen oder basteln. Geistliche sind ebenfalls an Bord. Gerade hat der katholische Seelsorger Jochen Winter ein Taufgespräch mit einem Tunesier spontan zu einer Bibelstunde ausgeweitet. Auf Persisch, Arabisch, Deutsch und Englisch ging es um Jakobs Traum von der Himmelsleiter.
So entspannt geht es beileibe nicht immer zu. Konflikte, auch gewaltsamer Natur, bleiben nicht aus, wenn fast 2000 Menschen aus unterschiedlichsten Regionen auf engem Raum leben. Für alleinreisende Frauen gibt es separate Unterkünfte, und wenn die Fäuste fliegen, greift zunächst ein Interventionsteam einer Sicherheitsfirma ein, die der Betreiber der Wohn-, Schlafund Essensbereiche beschäftigt. Bekommt das Team die Situation nicht in den Griff, sind auch die Polizisten von der Wache auf dem Gelände schnell zur Stelle.
Der Frust wächst insbesondere bei denjenigen, die über Wochen und Monate hier leben. Sie ahnen, dass es bei ihnen nicht so rund läuft und dass sie wohl eine schlechte Perspektive haben. Vor allem für sie gibt es die integrierte Rückkehrberatung. Manche nutzen sie und fahren statt zum mühsamen und wohl erfolglosen Verfahren direkt zum Flughafen – mit einer Starthilfe im Gepäck. Aber es könnten mehr sein. Die Hoffnung, in Deutschland bleiben zu dürfen, ist auch in Heidelberg weit verbreitet.
Wenn die Stadt das Areal nächstes Jahr als Wohnviertel nutzt, wissen Beuchert und seine Mitarbeiter, wie das Ankunftszentrum andernorts aussehen muss, damit es funktioniert. Rund 50.000 Flüchtlinge werden bis dahin durch die Tore in Heidelberg gegangen sein. Kaum etwas ist noch so wie am Anfang. Und auch nach 25 Monaten weiß Beuchert vor allem eines: „Noch kein Tag ist so verlaufen, wie man es sich morgens vorgestellt hat.“