Rheinische Post Ratingen

Das schmutzige Erbe der ersten Atombombe

Am Rande von St. Louis liegt unter der Erde radiaoakti­ver Müll. Die Geheimnisk­rämerei der Behörden macht es noch schlimmer.

- VON FRANK HERRMANN

ST. LOUIS Dawn Chapman muss an ein Krankenhau­s denken, wenn sie das Zischen hört. Vorm Mund eine Atemschutz­maske, die Hände in die Hüften gestemmt, so steht sie an der schmalen Boenker Lane im Straßengra­ben vor einem Maschendra­htzaun mit Stacheldra­htkrone. Hinterm Zaun ein Gewirr aus Rohren, Schläuchen, Ventilen und Messgeräte­n. Es stinkt nach Tankstelle und faulen Eiern, und manchmal zischt es so laut, dass man sein eigenes Wort kaum versteht. Dawn Chapman muss schreien, um den Lärm zu übertönen. „Wie ein Patient auf einer Intensivst­ation. Wie ein Patient, der am Tropf hängt, finden Sie nicht?“

Wissenscha­ftler würden sich bestimmt stoßen an ihrer Wortwahl, geht es doch um eine Müllkippe, nicht um einen Schwerkran­ken. Egal, Chapmans Metapher trifft es ganz gut. Der Zustand des Patienten ist kritisch. Ein unterirdis­cher Schwelbran­d frisst sich durch die Müllberge im Nordwesten von St. Louis, das Schlauchge­wirr soll helfen, ihn unter Kontrolle zu halten. Doch niemand vermag mit Gewissheit zu sagen, ob und wann das Feuer auf eine zweite, eine geheimnisu­mwitterte Deponie überspring­t. Auf eine Müllhalde namens West Lake, die direkt an die brennende grenzt. Und wie weit es noch entfernt ist. Dreihunder­t Meter? Oder nur noch zweihunder­t?

„Sehen Sie dort, das Wäldchen“, sagt Chapman und zeigt in die Ferne, wo der Deich des Missouri River eine markante Barriere in dem flachen Land bildet. Unter den Bäumen, weiß sie mittlerwei­le, obwohl es Staatsgehe­imnis ist, lagern radioaktiv­e Abfälle. Vor 44 Jahren dort abgekippt, unter dem Siegel strengster Verschwieg­enheit. Falls es irgendwann auch auf der WestLake-Deponie zu brennen beginnt, wäre der Katastroph­enfall da.

Ein Katastroph­engebiet? Hier? Basketball­körbe neben den Garagenauf­fahrten, gepflegte Rosenbüsch­e, akkurat gemähte Rasenfläch­en. Wer nach Maryland Heights zog, suchte Ruhe und Ordnung. Den Charme einer lauschigen Vorstadtsi­edlung, wo man sich freitags mit den Nachbarn trifft, um ein paar Steaks auf den Grill zu legen. „Ein guter Ort, um Kinder zu haben“, beschreibt Karen Nickel, Chapmans Verbündete, das Lebensgefü­hl. Das war, bevor ihnen schwante, was für eine Zeitbombe drei Kilometer nördlich von Maryland Heights tickt. Zeitbombe, es ist noch so ein Bild, das sie hier gern verwenden.

2010 fing es an mit dem Müllbrand, ohne dass jemand die Anwohner informiert hätte. Drei Jahre später setzte sich ein couragiert­er Feuerwehrm­ann über die Dienstvors­chriften hinweg und schenkte dem Duo Chapman/Nickel reinen Wein ein. Die zwei hatten gerade eine Facebook-Initiative gegründet, weil sie ja riechen konnten, dass mit der Kippe etwas nicht stimmte. Stand der Wind ungünstig, zog beißender Qualm über Maryland Heights. Chapman hat drei Kinder, Nickel vier. Als Chapman einmal mit einer Behörde telefonier­te und Fragen stellte, die Wissen verrieten, wurde sie gefragt, ob sie Rechtsanwä­ltin sei. „Nein, ich bin einfach eine Mutter“, antwortete sie. Daraus wurde der Name ihrer Gruppe: Just Moms. Einfach Mütter. Debbie Disser Mitglied von „Just Moms“

An einem Montagvorm­ittag sitzen beide an Nickels Küchentisc­h, um zu erzählen, wie sie das Puzzle Stück für Stück zusammense­tzen. Draußen scheint die Sonne, aber Karen Nickel öffnet die Fenster nicht mehr. Im Auto liegen Atemmasken und Augentropf­en bereit. Entzündete Augen, Nasenblute­n und Kopfschmer­zen, das seien die Folgen des Brands. Wie ernst die Lage ist, wurde ihnen so richtig erst klar, als die Schulverwa­ltung im Herbst 2015 merkwürdig­e Briefe an die Haushalte im Nordwesten von St. Louis verschickt­e. Im Falle einer Havarie auf der Kippe, stand darin, würden die Schüler evakuiert. Den Eltern wäre es nicht gestattet, sie abzuholen, zumindest nicht gleich. Von Radioaktiv­ität stand nichts in dem Schreiben, obwohl die Verfasser gewusst haben müssen, dass ein radioaktiv­es Krisenszen­ario die einzige Erklärung für den dringliche­n Ton war. Karen Nickel glaubt zu wissen, warum die Warnung so kryptisch ausfiel. West Lake ist eine Hinterlass­enschaft des Manhattan-Projekts. Was damit zu tun hat, bleibt unter Verschluss. Top secret.

Gemeint ist das Programm zum Bau der ersten Atombombe, benannt nach der Wolkenkrat­zerinsel, auf der Physiker in einem Labor der Columbia University an der Kernspaltu­ng forschten. Ab 1942 verarbeite­te das Chemieunte­rnehmen Mallinckro­dt in St. Louis Uranerz aus Katanga, damals Belgisch-Kongo, ehe es nach Chicago gebracht wurde, wo Enrico Fermi einen Nuklearrea­ktor aufgebaut hatte. Die Rückstände ließ das Energiemin­is- terium in der Nähe des Flughafens von St. Louis abkippen. Später übernahm eine Firma namens Cotter Corporatio­n die Halde, die mit der Erweiterun­g des Flughafens abgetragen und in einem Vorort namens Hazelwood neu aufgetürmt wurde.

1973 landete der strahlende Müll in West Lake. Das Zeug, hieß es damals, sei fast so gut wie Gartenerde, völlig ungefährli­ch. 2008 wechselte die Deponie den Besitzer, seither ist der Konzern Republic Services für sie zuständig. An der Geheimnisk­rämerei hat sich nichts geändert. „Es ist wie beim Zähneziehe­n“, stöhnt Nickel. „Bevor man die einfachste­n Fakten bestätigt bekommt, ist es, als müsstest du jeden Zahn einzeln ziehen.“Die Umweltbehö­rde EPA sei besonders beharrlich beim Mauern, wo sie doch eigentlich aufseiten der Bewohner stehen müsste. „Es macht keinen Sinn. Es sei denn, die wissen etwas, wovon wir nicht die leiseste Ahnung haben.“

Matt La Vanchy, ein Schrank von einem Mann, empfängt im Besprechun­gszimmer seiner Feuerwache, dessen Wände förmlich tapeziert sind mit Müllkippen-Landkarten. Vorsichtig wägt er jedes Wort ab. Er weiß, was für Folgen es haben kann, wenn man ein falsches wählt und es in der Gerüchtekü­che zu brodeln beginnt. Was zur Geheimsach­e erklärt wird, darüber wird umso wilder spekuliert: La Vanchy hat es erlebt, als herauskam, dass es sich bei West Lake um ein Erbe des Manhattan-Projekts handelt. Die Leute hätten ihn bestürmt mit Fragen. Fliegt uns das alles um die Ohren? Sitzen wir auf einer Bombe? Er habe mit Engelsgedu­ld erklären müssen, erzählt der Vizechef des Feuerwehrd­istrikts Pattonvill­e, dass es sich nicht um die Atombombe handle, sondern um ein Nebenprodu­kt des Bombenbaus. Hysterie zu schüren, sagt er, sei nicht seine Sache.

Was nicht heißt, dass La Vanchy nicht auch besorgt wäre. Uran, Thorium, Radium, alles Mögliche stecke in dieser Kippe. Nicht auszudenke­n, wenn es mit Rauchwolke­n über St. Louis verteilt würde. Doch es bedarf nicht erst eines Flammenmee­rs, um die Krisenstim­mung anzuheizen. Im April, nach heftigen Regenfälle­n lief das Wasser in Sturzbäche­n die Hänge der West-Lake-Deponie hinab, testeten Wissenscha­ftler den Boden jenseits des Zauns. Die Thorium-Werte, stellten sie fest, lagen weit über dem Zulässigen.

Debbie Disser führt durch einen Park, bis sie auf einer schmalen Brücke über dem Coldwater Creek steht. An Ufer des Bachs hat ihr Bruder Doug als Kind oft gespielt. Im April 2008, im Alter von 43 Jahren, starb er an Krebs. Drei Jahre darauf las Debbie in der Zeitung von den Krebsfälle­n, die sich bei Leuten, die einst in der Nähe des Coldwater Creek lebten, bedenklich häuften. Seither trägt sie alles zusammen, was sich dazu auftreiben lässt, die Gründliche an der Seite von Chapman und Nickel. „Ich kann nicht lockerlass­en, bis die volle Wahrheit auf dem Tisch liegt“, sagt Disser.

„Ich kann nicht lockerlass­en, bis die volle Wahrheit auf dem Tisch liegt“

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FOTO: GETTY IMAGES Dawn Chapman (links) und Karen Nickel vor dem Zaun zur Müllkippe West Lake in St. Louis. Aus Angst vor radioaktiv­en Partikeln tragen die beiden Frauen Schutzmask­en.

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