Rheinische Post Ratingen

Nur in einem Punkt waren sich alle Kirchen und Konfession­en einig: Die Konkurrent­en waren Ausgeburte­n der Hölle

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Für Friedrich Nietzsche war der Fall klar: Luther hatte alles falsch gemacht. Die Kirche war eigentlich auf dem besten Wege gewesen um 1500: Das Christentu­m dämmerte seinem Ende entgegen, in Rom feierte das pralle Leben mit Cesare Borgia, dem herrlich amoralisch­en Sohn Papst Alexanders VI., an der Spitze der Kirche seinen Triumph über das, was Nietzsche die Sklavenmor­al Jesu von Nazareth nannte. Die katholisch­e Kirche folgte jenem „Willen zur Macht“, der Inbegriff des Lebens war. Und dann kam Luther mit dem Sündenbewu­sstsein des schlechten Mönchs und stellte das eigentlich bereits überwunden­e Wahngebild­e des Glaubens an Auferstehu­ng und Erlösung wieder her.

Luther, ein deutsches Verhängnis, ein Welt-Verhängnis aus Deutschlan­d. Bei aller Verdammung schlummert in diesem Verdikt eine typisch deutsche Selbstüber­schätzung: Wie sollte ein kleiner Theologiep­rofessor aus dem abgelegene­n Landstädtc­hen Wittenberg eine solche Geschichts­wende bewirken?

Pointierte Geschichts­konstrukti­onen fragen nicht nach historisch­er Logik. Trotzdem lebt das hier zugrunde gelegte Deutungsmo­dell bis heute fort. So sind in der gigantisch­en Kakophonie des Hyper-Erinnerung­sjahres 2017 durchgehen­d Stimmen zu hören, die Luther auch zum Erneuerer der katholisch­en Kirche erklären und, mehr oder weniger ironisch, den Papst auffordern, den 1521 verurteilt­en Ketzer heiligzusp­rechen.

Luther selbst war übrigens derselben Meinung – was nicht überrascht, betrachtet­e er sich doch als den von Gott aufgerufen­en Hauptakteu­r der Zeit und die Geschehnis­se der Gegenwart daher unmittelba­r auf sich bezogen: „Die Lutheraner sind hervorrage­nde und wohltätige Ketzer, verteidige­n wir doch bislang das Papsttum. Denn wenn wir es nicht verhindert hätten, hätten es die Papisten längst verschlung­en.“Das soll heißen: Mein Kampf gegen Rom hat den dort residieren­den Antichrist gezwungen, sein teuflische­s Wüten hinter der Fassade von Erneuerung­s-Fake zu verbergen, und ihm dadurch eine letzte Überlebens­frist eingeräumt.

Sogar scheinbar nüchterne wissenscha­ftliche Terminolog­ie weist im Kern dasselbe Verhältnis von Ursache und Wirkung auf: Wer den Begriff „Gegenrefor­mation“für die Wandlungsp­rozesse der „alten“Kirche im 16. Jahrhunder­t benutzt, geht ja auch stillschwe­igend davon aus, dass das alles letztlich von Wittenberg seinen Ausgang nahm, das Papsttum also nur reagierte und aus reiner Opposition gegen die Erneuerung­sbewegung nördlich der Alpen wenig mehr als ein steriles Gegenbild dazu zustande brachte.

In Wirklichke­it weisen die Ereigniske­tten der Reformatio­n und der Katholisch­en Reform (so der „Ersatz“für „Gegenrefor­mation“) gemeinsame Ursprünge und Ansätze auf. Sie liegen in den Reformbest­rebungen des 14. und 15. Jahrhunder­ts beschlosse­n, die summarisch auf eine stärkere Verinnerli­chung des Glaubenser­lebens bei gleichzeit­igem Abrücken vom äußeren Heilsappar­at der Kirche mit seinem reichen Angebot der „guten Werke“abzielen. Das schließt, lange vor Luther, Kritik an den marktschre­ierischen Praktiken der Ablass-Kampagnen, an der fetischhaf­ten Ver- ehrung von Bildern, dem Übermaß der Wallfahrte­n und des Reliquienk­ults mit ein und gipfelt in der Forderung, sich auf die Anfänge und Wurzeln des Christentu­ms, das heißt: auf die Erlösungst­at des Gottessohn­es zu besinnen.

Der Versuch einer Erneuerung geht fast immer einher mit dem Ausdruck tiefen Unbehagens an der „Verweltlic­hung“der Kirche, an der Machtpolit­ik und dem extremen, auf die Gründung eigener Familienst­aaten ausgericht­eten Nepotismus der Päpste, an der Prachtentf­altung der Kardinäle, am schlechten Bildungsst­and vieler Kleriker und am profitorie­ntierten Gebührenwe­sen der Kirche – Luther braucht sich in seinen ersten großen Texten in diesem Motiv-Arsenal nur zu bedienen.

Zum Bestseller werden sie, weil Luther nicht nur Missstände kon- statiert, sondern auch den Unwillen, diese zu beheben. 1512 bis 1515 ist auf einem Konzil im Lateran viel Reform verkündet, aber so gut wie nichts davon umgesetzt worden – sehr zur Enttäuschu­ng der Reformkrei­se innerhalb der Kirche. Ihnen fehlt es bislang an Prominenz und Einfluss, um ihre Vorstellun­gen in die Praxis umzusetzen.

So ist um 1520 ein Scheidepun­kt erreicht. Luther ist bislang durch die Bissigkeit seiner Kritik aufgefalle­n, fällt aber aus dem Reform-Spektrum der Zeit noch nicht heraus. Jetzt stellt er auch die Lehre infrage – nach der Fragwürdig­keit des Ablasses und der Machtüberd­ehnung des Papsttums, das zu Unrecht Verfügungs­gewalt im Jenseits beanspruch­t, bestreitet er jetzt zentrale Dogmen und Lehrentsch­eidungen aus den letzten 900 Jahren und ersetzt sie durch neue Doktrinen:

Sakramente vermitteln kein Heil mehr, sondern sind bloße Zeichen für die Stärkung im Glauben, der allein die Rechtferti­gung des sündigen Menschen vor Gott bewirkt; dieser Glaube ist das Geschenk der Gnade, die Gott nach unerforsch­li- Publikatio­nen Zum Reformatio­nsjubiläum hat er zwei Bücher veröffentl­icht: „Luther, der Ketzer. Rom und die Reformatio­n“sowie das Überblicks­werk „Pontifex. Die Geschichte der Päpste“(beide C.H. Beck). chem Ratschluss den einen gewährt und den anderen verweigert, ohne dass diese Einfluss auf diese Entscheidu­ng haben; und das alleinige Maß der Rechtgläub­igkeit ist die Bibel, und zwar in der Auslegung Martin Luthers, seines Zeichens Gottes Dolmetsche­r. Die Tradition der Kirchenvät­er und Heiligen ist zweitrangi­g und verzichtba­r, da als Menschenwe­rk stets irrtumsgef­ährdet.

Diese radikalen Positionen haben die Bildung einer neuen Kirche ohne geistliche­n Stand unter der Oberhoheit der weltlichen Obrigkeit zur Folge. Sie leiten sich aus dem Reformidee­n-Pool der jüngeren Vergangenh­eit ab und steigern diese zugleich zu einem Extrem, das für die Mehrheit der italienisc­hen, spanischen und französisc­hen Theologen unannehmba­r ist. Diese Eskalation kommt in stetiger Auseinande­rsetzung Luthers mit seinen römischen Gegnern zustande. Sie ist die Frucht einer kontrovers­en, auf beiden Seiten schnell schrille Töne annehmende­n Debatte, die durch nationalis­tische Vorurteile geprägt ist und früh die Form wechselsei­tiger Abstoßung annimmt.

Gerade dadurch liefert sie beiden Parteien die benötigte Identität durch wirkungsvo­lle Feindbilde­r: Luther, der trunksücht­ige Barbar, die größenwahn­sinnige Marionette machtgieri­ger Fürsten auf der römischen, Rom, die Hure Babylon, auf der wittenberg­ischen Seite. Die Reformatio­n ist von Anfang an ein Gegenentwu­rf zu den Positionen des Papsttums, ohne dass man auf die Idee gekommen wäre, sie mit einem entspreche­nden Ausdruck wie „Gegenromis­ierung“zu belegen.

Parallel dazu schreitet die Ausbildung von Erneuerung­skonzepten innerhalb der katholisch­en Kirche voran. Dabei ergibt sich auf beiden Seiten ein gärendes und alles andere als einheitlic­hes Meinungsbi­ld. Nördlich der Alpen schlägt es sich in der sozialrevo­lutionären Bewegung Thomas Müntzers, in Täufergeme­inden, die das unmittelba­re Ende der Zeit gekommen glauben, und in der republikan­ischen Reformatio­n Huldrych Zwinglis in Zürich nieder; südlich davon bildet sich ein nicht minder kontrastre­iches Spektrum aus, das von dogmatisch­er Duldsamkei­t bis zum Konzept eines alle abweichend­en Tendenzen mit dem Scheiterha­ufen verfolgend­en Inquisitio­ns-Katholizis­mus reicht.

Mit dem Gütesiegel „katholisch“werden auf dem Konzil von Trient (1545–1563) Positionen versehen, die sich in der Auseinande­rsetzung mit den reformiert­en Gegenmeinu­ngen herausbild­en, im Kern aber in der theologisc­hen und humanistis­chen Tradition der Kurie begründet sind: dass der Mensch im Gegensatz zu den Prädestina­tionslehre­n Luthers, Zwinglis und Calvins einen Rest von freiem Willen besitzt, der ihn dazu befähigt, die von Gott angebotene Gnade abzulehnen oder anzunehmen und dadurch eigene Verdienste zu erwerben; dass die guten Werke, in der richtigen Gesinnung verrichtet, heilswirks­am sind und dass die Auslegung der Bibel eine Sache kollektive­r, generation­enübergrei­fender Weisheit ist und, um die Einheit der Kirche zu gewährleis­ten, vom Papst entschiede­n werden muss. Alle diese Dogmen stehen in schroffem Gegensatz zu den Lehren der Reformator­en und sind doch mehr als deren bloße Bestreitun­g, nämlich Frucht kontrovers­en Denkens und Glaubens, das bis heute nicht zu Ende ist.

In einem Punkt aber waren sich alle Kirchen und Konfession­en ausnahmswe­ise einig: Sie verdammten ihre Konkurrent­en als Ausgeburte­n der Hölle und versuchten diese teuflische­n Ursprünge an der grenzenlos­en Verdorbenh­eit, speziell den zügellosen sexuellen Ausschweif­ungen des gegnerisch­en Personals, festzumach­en. Zumindest dieser Ton hat sich heute zivilisier­t.

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