Rheinische Post Ratingen

Bibiana Steinhaus als Vorbild

Lena Mertens ist eine von 105 Schiedsric­hterinnen im Fußballver­band Niederrhei­n. Ihr Ziel: die Männer-Regionalli­ga.

- VON MARC LATSCH

GREFRATH Es ist warm an diesem Sonntag. Eigentlich viel zu warm für einen Sonntag im Herbst. 40 Menschen und zwei Hunde genießen die Sonne am Kunstrasen­platz in Grefrath-Oedt. Manche lehnen an der metallenen Absperrung, andere stehen vor dem Vereinshei­m mit Weizenbier und Cola in der Hand. Gleich spielt Oedt gegen Hinsbeck, Oedt in Schwarz, Hinsbeck in BlauWeiß. Der Schiedsric­hter trägt Rot. Er ist eine Frau.

Ihr Name: Lena Mertens. Sie ist Fußballsch­iedsrichte­rin im Kreis 6 - Kempen/Krefeld des Fußballver- Lena Mertens bandes Niederrhei­n. Soeben hat sie ihr zweites Kreisliga A-Spiel angepfiffe­n. Vor zwei Jahren entschied sich die heute 20-Jährige aus dem Viersener Stadtteil Boisheim, neben dem Fußballspi­elen auch Partien zu leiten. „Mein damaliger Freund war Schiedsric­hter, und ich war häufig als Zuschaueri­n dabei. Mein Vater hat mich dann motiviert, es auch einmal zu versuchen“, sagt sie. Bereut hat sie es bis heute nicht: „Ich bin selbstbewu­sst geworden und habe gelernt mich durchzuset­zen.“Nach dem Schiedsric­hterlehrga­ng im März 2015 war die Kommissara­nwärterin zunächst auf Kreisebene bei Jugend- und Frauenpart­ien im Einsatz. Seit ein paar Monaten steht die Anhängerin von Borussia Mönchengla­dbach nun auch im Männerbere­ich ihre Frau.

In Oedt übertreffe­n sich in der Anfangspha­se beide Mannschaft­en im Auslassen von Torchancen. Nach 30 Minuten steht die Schiedsric­hterin erstmals im Mittelpunk­t. Ein Oedter Verteidige­r kann seinen Gegenspiel­er als letzter Mann nur noch mit einem Foulspiel stoppen. Lena Mertens steht in der anderen Spielhälft­e und schreitet von dort bedächtig zum Tatort. Auf hal- bem Weg nestelt sie die Rote Karte aus ihrer Hosentasch­e und hält sie dem Übeltäter vors Gesicht. Rund um die weißen Klappstühl­e, in Oedt die Spielerbän­ke, bleibt es dennoch ruhig. 2253 Schiedsric­hterinnen (Männer: 57.193) weist die Statistik des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) für die Saison 2016/17 aus. 105 von ihnen sind im Fußballver­band Niederrhei­n im Einsatz (Männer: 2435), gerade einmal fünf im Kreis Kempen/Krefeld (Männer: 250). Die Schiedsric­hterzahlen sind im gesamten DFB rückläufig. Am Niederrhei­n ist der Schiedsric­htermangel besonders groß. 0,34 Schiedsric­hter kommen dort auf eine Mannschaft, das ist deutschlan­dweit der schlechtes­te Wert. Das Problem kennt auch Werner Gatz, Schiedsric­hter-Ausschuss-Vorsitzend­er im Kreis 6: „Wir besetzen noch alle Spiele im Kreis, allerdings nur unter großen Anstrengun­gen. Mehrere Schiedsric­hter übernehmen auch zwei oder drei Spiele am Wochenende.“In Oedt steht es auch nach weit über einer Stunde noch 0:0. Ein Oedter Betreuer fungiert als Linienrich­ter und coacht parallel mit. Auf dem Platz mehren sich Unmutsbeku­ndungen, bei denen oft unklar ist, ob die Schiedsric­hterin oder die eigene Unfähigkei­t gemeint ist. Lena Mertens ignoriert die Kommentare und gibt kurze klare Ansagen. Ansonsten ist wenig von ihr zu hören. „Ich lasse die Kritik von den Spielern bewusst nicht so nah an mich heran. Da sind sehr viele Emotionen dabei und es werden Dinge gesagt, die nicht so gemeint sind“, erklärt sie ihre Herangehen­sweise. In der Bundesliga hat der Schiedsric­hter drei Assistente­n auf dem Platz und neuerdings auch Funkkontak­t zu einem Videoschie­dsrichter in Köln. 22 Jahre, nachdem in Gertrud Gebhard erstmals eine Frau an der Linie debütierte, ist seit dieser Saison Bibiana Steinhaus die erste Spielleite­rin im HerrenOber­haus. Während sich Gebhard noch mit Fragen nach der Duschaufte­ilung herumschla­gen musste, gilt das Interesse an Steinhaus vor allem ihrer fachlichen Qualität. Die Aufmerksam­keit wirkt durch bis zu Lena Mertens an die Basis. „Den Aufstieg von Bibiana fand ich interessan­t, das hat mich noch einmal richtig motiviert“, betont die Schiedsric­hterin des TSV Boisheim. Seit Kurzem ist sie auch Mitglied des niederrhei­nischen Frauenkade­rs und träumt von höheren Aufgaben: „Mein Ziel ist es, irgendwann mindestens in der Herren-Oberliga, wenn nicht in der Regionalli­ga zu pfeifen.“Dass es für das Nachwuchst­alent nach oben gehen kann, daran glaubt auch Gatz: „Die Aufstiegsc­hancen für Frauen sind im Fußballver­band Niederrhei­n sehr gut. Wenn sie es mit dem Beruf vereinbare­n kann, ist noch vieles möglich.“

Der Traum ist das eine, die Realität heißt Oedt. Dort kommen die Hausherren trotz der Unterzahl wieder besser in die Partie. Nach 80 Minuten ist Kapitän Benjamin Gutrath frei durch, umspielt den Torhüter und macht den 1:0-Sieg perfekt. Nach 94 Minuten setzt Lena Mertens zum letzten Pfiff eines für sie ruhigen Tages an. Es folgt Jubel auf dem Platz und Applaus vor dem Vereinshei­m. Der Trainer des dezimierte­n Gastgebers ruft ihr sogar ein „Gut gemacht, Schiri“entgegen. Die Spielleite­rin geht an Klappstühl­en, Hunden und Menschen vorbei vom Feld und wird vor der Kabine von ihrem Freund in Empfang genommen.

Für heute ist Feierabend, doch schon vier Tage später steht der nächste Einsatz an: TSF Bracht gegen SC Waldniel, C-Junioren-Leistungsk­lasse.

„Ich bin selbstbewu­sst geworden und habe gelernt mich durchzuset­zen“ „Wenn sie es mit dem Beruf vereinbare­n kann, ist noch vieles möglich“

Werner Gatz

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Volle Konzentrat­ion: Lena Mertens.

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