Rheinische Post Ratingen

Eisstraßen

- VON MONIKA HIPPE

An diesem frostigen Wintermorg­en fährt Konstantin mit seinem Auto aufs Meer – ohne Fähre. Die Reifen rollen knirschend übers Eis, das in der Sonne funkelt wie Kristall. Mitten auf der zugefroren­en Meerenge bremst er, steigt aus und bohrt ein Loch. „Das Eis muss 26 Zentimeter dick sein, um die Autos tragen zu können“, sagt der blonde Este, der im Sommer asphaltier­te Straßen baut und im Winter Eisstraßen. Jeden Tag muss er neu entscheide­n, ob die zwölf Kilometer lange Eisstraße für den Autoverkeh­r von Rohuküla zur Insel Vormsi freigegebe­n werden kann.

In Estland gibt es sieben mögliche Eisstraßen mit knapp vier bis 27 Kilometern Länge. In besonders kalten Wintern sind alle Strecken wochen- oder monatelang befahrbar. In anderen Jahren werden nur einige für wenige Tage freigegebe­n. „Wir machen uns trotzdem die Mühe mit Aufbau und Abbau, damit wir nicht verlernen, wie es geht“, sagt Konstantin. Am häufigsten friert die Meerenge zwischen Haapsalu und der Halbinsel Noarootsi zu. Die Einheimisc­hen freuen sich dann über eine zehnmal kürzere Wegstrecke zum Festland.

Aber die Eisstraße lockt auch viele Spaßfahrer aus ganz Estland an. Am Wochenende bilden sich kleine Staus vor dem Kontrollhä­uschen an der Uferpromen­ade. Auf dem Meer gilt die Straßenver­kehrsordnu­ng mit einigen Abweichung­en, die jedem Fahrer erklärt werden: Nicht stoppen! 250 Meter Abstand halten! Und bitte nicht anschnalle­n! Falls man einbricht, würde man nicht schnell genug herauskomm­en. Doch das sei auf der offizielle­n Strecke noch nie passiert.

Auch Kertu fährt im Winter gern auf der Eisstraße, aber noch lieber schwimmt die schlanke Estin im Eiswasser. Einmal in der Woche trifft sie sich mit zehn bis 20 Frauen am Jachthafen. Dort klettern sie in Badeanzug und Pudelmütze über eine Leiter ins NullGrad kalte Wasser. „Ich habe zehn Jahre lang davon geträumt, bis ich den Mut hatte, es auszuprobi­eren und mich ein Facebook-Freund das erste Mal mitgenomme­n hat“, erzählt Kertu. Inzwischen hält sie es von allen am längsten aus: 1,5 Minuten. „Wenn ich Kopfschmer­zen habe, wirkt das Eisbad Wunder, danach bin ich wieder total fit“, schwärmt sie. Gern nimmt sie auch Gäste mit zum Schwimmen.

Die Urlauber kommen im Winter aber auch, um wärmende Schlammpac­kungen in einem der Spa-Hotels zu genießen. Haapsalu hat eine lange Tradition in solchen Anwendunge­n, denn es war der Este Dr. Carl Abraham Hunnius, der Anfang des 19. Jahrhunder­ts als Erster die heilende Wirkung von Meeresschl­amm wissenscha­ftlich untersucht­e. Nahe der Eisstraße ist ihm ein Denk- mal gewidmet. Von dort spaziert man am Kurhaus mit kunstvoll geschnitzt­en Dachgiebel­n vorbei. Die erste Kuranstalt entstand im Jahr 1825. Damals entwickelt­e sich Haapsalu zu einem mondänen Feri- enort für russische Zarenfamil­ien.

In der Mitte der Altstadt thront eine imposante Burgruine aus dem 13. Jahrhunder­t. Einer Legende nach soll in bestimmten Vollmondnä­chten Anreise z.B. mit Ryanair ab Weeze nach Tallin ab etwa 25 Euro (nur Hinflug); von dort mit dem Leihwagen oder Bus in 1,5 Stunden nach Haapsalu. Estlands offizielle Eisstraßen (sofern das Wetter mitspielt): Rohuküla – Hiiuma 26 km Hiiuma – Saaremaa 15 km Munalaiu – Kihnu 15 km Rohuküla – Vormsi 12 km Virtsu – Muhu 10 km Laaksaare – Piirissaar­e 8 km Haapsalu – Noarootsi 4 km 2018 findet in Estland die Weltmeiste­rschaft im Winterschw­immen statt (Datum noch offen) Tretschlit­tenvermiet­ung www.toukatakka.ee/de Wohnen & Schlafen Direkt in der Altstadt von Haapsalu bietet „Hapsal Dietrich“fünf behaglich und geschmackv­oll eingericht­ete Appartemen­ts an, ab 95 Euro pro Tag www.hapsaldiet­rich.dee Übernachte­n bei Einheimisc­hen für 25 Euro pro Person inkl. Eisschwimm­en www.tiiker.wordpress.com Internet www.visiteston­ia.com das Bild einer weißen Frau am Fenster zu sehen sein. Sie soll sich als Chorknabe verkleidet haben, um ihrem Geliebten – einem Bischof – nahe zu sein. Als die Verkleidun­g aufflog, wurde sie zur Strafe eingemau- ert. Jeden Sommer wird diese Geschichte als Theaterstü­ck im Burghof aufgeführt.

Was die Kultur angeht wie auch die Liebe zur Natur, die Modernität und den digitalen Fortschrit­t, hat Estland viel mehr von Finnland als von seinem Nachbarn Russland. Hippe Wohnzimmer­cafés, hervorrage­nde Restaurant­s mit regionalen Spezialitä­ten und in jedem Winkel eine gute Internetve­rbindung. Dabei gelingt den Einheimisc­hen der Spagat zwischen Tradition und Moderne. Wie beim Tretschlit­ten: Früher diente er als praktische­s Fortbewegu­ngsmittel. Man brachte damit im Winter die Kinder zur Schule oder transporti­erte die Einkäufe nach Hause. Heute gleiten Urlauber damit übers Eis. Auf der Tour geht es vorbei an Schilfinse­ln, die im Sonnenunte­rgang satt orange leuchten – hin zu einer der 1520 Inseln vor der Küste Estlands.

Zurück am Festland verabschie­det sich der Tag langsam, malt ein zartrosa-bläuliches Licht in die Landschaft und stempelt schon mal den Mond in den Himmel. Vom Aussichtst­urm an der Uferpromen­ade hat man einen guten Blick auf die Eisstraße. Dort rollt nun ein Wagen mit Scheinwerf­erlicht. Womöglich ist es der letzte in diesem Jahr. Nachts ist die Nutzung der Straße verboten. Und höchstens Petrus weiß, ob der eisige Weg übers Meer am nächsten Tag wieder geöffnet werden kann.

Nicht stoppen! 250 Meter Abstand halten! Und bitte nicht anschnalle­n!

Die Redaktion wurde von Estonian Tourist Board zu der Reise eingeladen.

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Auf dem Tretschlit­ten gleiten nicht nur Einheimisc­he, sondern auch Urlauber übers Eis.
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Am Yachthafen von Haapsalu trifft sich im Winter jede Woche eine Gruppe Frauen, um ein paar Runden im Eiswasser zu schwimmen.

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