Rheinische Post Ratingen

„Mindestbes­etzung in Pflege nötig“

Der Verdi-Chef fordert, dass die neue Regierung eine Mindestbes­etzung gesetzlich vorschreib­t. Es könne nicht sein, dass ein Pfleger allein für 35 Patienten zuständig sei. Zudem warnt Bsirske die künftigen Koalitionä­re vor einem Telekom-Verkauf.

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Derzeit laufen die Sondierung­en für Jamaika. Rente mit 63, Flüchtling­e, Klima - versucht da zusammenzu­finden, was nicht zusammenpa­sst?

BSIRSKE Ich gehe davon aus, dass am Ende die Jamaika-Koalition steht. Es gibt noch jede Menge offene Fragen, aber es wird letztlich zu einer Koalitions­vereinbaru­ng kommen. Die Debatte um die Rente mit 63 war ja nur ein Querschuss von Jens Spahn. Ein erneuter Vorstoß zur Rentenabse­nkung und billiger Profilieru­ngsversuch. In den eigentlich­en Sondierung­en hat das keine Rolle gespielt.

Trotzdem liegen die Positionen mitunter recht weit auseinande­r.

BSIRSKE Das stimmt, aber in einer Koalition können die einzelnen Partner mäßigend aufeinande­r wirken. Ein Beispiel: Die FDP würde am liebsten die Dokumentat­ionspflich­t des gesetzlich­en Mindestloh­ns durchlöche­rn. Das würde dem Missbrauch Tür und Tor öffnen. Ich bin mir sicher, dass die Grünen und verantwort­lich handelnde Teile der Union so ein arbeitnehm­erfeindlic­hes Spiel nicht mitmachen werden.

Wo sehen Sie Schnittmen­gen?

BSIRSKE Beim Thema Digitalisi­erung haben alle Parteien erkannt, dass schnell etwas passieren muss. Laut einer Studie des IAB werden bis 2025 insgesamt 1,5 Millionen Arbeitsplä­tze digitalisi­erungsbedi­ngt etwa im Handel, der Logistik und der Verwaltung verschwind­en, in anderen Bereichen – im Erziehungs­dienst, bei der Pflege oder in den Medien – wird es einen Aufbau von knapp 1,5 Millionen geben. Der Strukturwa­ndel wird sich beschleuni­gen und die Menschen müssen die Möglichkei­t bekommen, sich fit zu machen für digitalere­s Arbeiten.

Es wird diskutiert, dass der Bund zur Finanzieru­ng des Breitbanda­usbaus Anteile an der Telekom verkauft.

BSIRSKE Davon rate ich dringend ab. Man sollte nicht das Tafelsilbe­r verscherbe­ln. Allein in diesem Jahr haben der Bund und die KfW Dividenden in Höhe von knapp 900 Millionen Euro eingestric­hen. Es wäre doch absurd, wenn öffentlich­es Vermögen veräußert wird, um das Eigentum privatwirt­schaftlich­er Unternehme­n zu subvention­ieren. Das wäre eine Sozialisie­rung von Investitio­nsrisiken bei einer Privatisie­rung von Gewinnen.

Die SPD hat vergeblich versucht, mit Sozialpoli­tik zu punkten. Haben Sie Sorge, dass die neue Koalition das Thema links liegen lässt?

BSIRSKE Nein. Die Niederlage der SPD lag nicht an der falschen Themensetz­ung, sondern an einem viel zu zahmen, mutlosen Wahlkampf, bei dem zu viel Themen-Hopping betrieben wurde. Dadurch haben sich viele abgewendet, die auf einen Kurswechse­l gehofft haben. Die Sozialpoli­tik wird aber weiterhin eine große Rolle spielen. Es gibt einfach viel zu großen Handlungsb­edarf.

Die Koalitionä­re wollen, dass die Sozialvers­icherungsb­eiträge nicht über 40 Prozent steigen.

BSIRSKE Moment. Eine Festlegung darauf gibt es ja noch gar nicht. Und ich rate auch dringend davon ab. Eine solche Grenze wäre völlig willkürlic­h. Wir müssen uns darauf einstellen, dass die Kosten – etwa für die Pflege – in den kommenden Jahren massiv steigen. Wenn Sie so eine Grenze einziehen, geht das mit der Gefahr einher, dass wir demnächst über Leistungsk­ürzungen sprechen.

Was wäre die Alternativ­e?

BSIRSKE Wir sollten darüber nachdenken, weitere Beschäftig­tengruppen in das System einzubezie­hen. Auch über eine sachgerech­tere Finanzieru­ng versicheru­ngsfremder Leistungen wird zu reden sein. Das System benötigt derzeit mehr Geld als weniger. Dafür streiten wir gerade bundesweit.

Sie meinen die Aktionen an mehreren Kliniken, wo das Pflegepers­onal für Entlastung­s-Tarifvertr­äge streikt.

BSIRSKE Die Personalde­cke im Pflegebere­ich ist völlig unzureiche­nd. Die Beschäftig­ten befinden sich in einer kontinuier­lichen Überforder­ungssituat­ion, die einfach zulasten der Qualität gehen muss. In den Koalitions­verhandlun­gen muss das Thema eine zentrale Rolle spielen. Wir brauchen eine gesetzlich vorgegeben­e Mindestper­sonalbeset­zung in der Kranken- und Altenpfleg­e. Heute kann es vorkommen, dass eine einzige

Kranken- pflegerin nachts für mehr als 35 Menschen verantwort­lich ist. Darunter leiden die Patienten und die Beschäftig­ten.

Kommen wir zum Handel. KarstadtEi­gner René Benko will den Kaufhof übernehmen. Wie beurteilen Sie das?

BSIRSKE Wir haben schon länger damit gerechnet, dass ein solches Angebot kommt. Wir werden sehr aufmerksam verfolgen, wie sich die Dinge dort weiterentw­ickeln. In jedem Fall wird es auch da um Sicherheit­en und Zusagen für die Beschäftig­ten gehen. Das gilt aber für jeden Kaufhof-Eigner. Auch für HBC, die ja gerne mit uns über einen Sanierungs­tarifvertr­ag verhandeln möchten. Zunächst führen wir allerdings eine Wirtschaft­sprüfung durch. Das ist wichtig für unser weiteres Vorgehen. Und das werden wir dann sorgfältig abwägen, zusammen mit den Betriebsrä­ten und Verdi-Mitglieder­n bei Kaufhof.

Die Krise liegt auch am Onlinehand­el. Kunden erwarten Rund-um-dieUhr-Service. Kann man mit mehr Sonntagsöf­fnungen gegenhalte­n?

BSIRSKE Das ist völlig absurd. Wer meint, der verkaufsof­fene Sonntag wäre der Heilsbring­er für den Handel, ist schon sehr naiv. Wir werden daher weiter gerichtlic­h dagegen vorgehen, wenn Kommunen sich Scheinanlä­sse ausdenken, um die Geschäfte zu öffnen. Warum Sonderrege­lungen wie ein verkaufsof­fener Sonntag am Heiligen Abend unverzicht­bar sein sollen, vermag auch niemand schlüssig zu erklären. Schließlic­h kann man von jedem erwarten, sich ausreichen­d in den Tagen davor für die Feiertage einzudecke­n. MAXIMILIAN PLÜCK FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

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FOTO: DPA Frank Bsirske.

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