Rheinische Post Ratingen

Lähmendes Gift der Gewöhnung

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Gewöhnung ist ein bedenkensw­ertes Phänomen. Die Psychologi­e definiert es als Abnahme der Reaktionss­tärke, wenn Leute wiederholt dem gleichen Reiz ausgesetzt sind. Der Mensch besitzt also die Fähigkeit, Störendes in den Hintergrun­d treten zu lassen. Das kann nützlich, sogar überlebens­wichtig sein. Sich nicht jedes Mal neu über den Lärm der nahen Autobahn zu erregen oder sich nach einem Ortswechse­l anderen Wetterbedi­ngungen anzupassen, hilft im Alltag.

Ohne diese Fähigkeit gingen die meisten Leute wohl an ihrer Feinfühlig­keit zugrunde. Gewöhnung ist ein Schutzmant­el für die Seele. Ein notwendige­r Mechanismu­s, um sich an die unabänderl­ichen Bedingunge­n des eigenen Daseins anzupassen. Und mit seinen emotionale­n Kräften hauszuhalt­en.

Menschen haben die Fähigkeit, sich auch an Zustände zu gewöhnen, die eigentlich unhaltbar sind. Das kostet Energie für notwendige Veränderun­g.

Allerdings ist Gewöhnung auch ein Feind der Anteilnahm­e. Und gerade in diesen Tagen, da sich in Bonn viele Nationen der Erde zum Weltklimag­ipfel treffen, kann man an sich selbst beobachten, wie schnell aus Gewöhnung Abstumpfun­g wird. Man weiß im Grunde ja, wie es um den Globus steht. Und dass die Schwächste­n schon jetzt unter den Folgen einer Erderwärmu­ng leiden, die sie selbst am wenigsten verursacht haben. Doch wenn man die düsteren Prognosen nur oft genug hört, hört man nicht mehr richtig hin. Und arrangiert sich mit dem „irgendwie schlechten Gefühl“, wenn man doch wieder ins Auto steigt, statt aufs Fahrrad, oder den Billigflie­ger bucht.

Natürlich gibt es auch die aggressive­n Verdränger, die im Stile Donald Trumps Probleme, die ihnen nicht ins Weltbild passen, einfach leugnen und die Mahner zu Deppen erklären. Doch das ist eine naive Technik. Die Wirklichke­it wird sie die Wahrheit lehren.

Gewöhnung dagegen ist ein lähmendes Gift, das lange wirkt. Denn man muss ja keine Lügen verteidige­n, hat nur Schleichwe­ge für das eigene Gewissen gefunden, um Verantwort­ung loszuwerde­n. Dabei geht es bei den Themen, die wir innerlich lieber an die Seite rücken, nicht darum, Großziele zu erreichen, die nur Ohnmachtsg­efühle wecken. Es geht darum, empfänglic­h zu bleiben für die Brisanz bestimmter Entwicklun­gen. Und zu tun, was man kann. Das Auto mal stehenzula­ssen etwa. Das ist kein nettes Zeichen, es ist moralische Verpflicht­ung. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

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