Rheinische Post Ratingen

Abgrund

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Offenbar hatte es intern Auseinande­rsetzungen über das richtige Vorgehen gegeben. Und Nuñez hatte sich durchgeset­zt, jedenfalls wollte er, dass sie diesen Eindruck gewann. Sie beschloss, seine Bemerkunge­n nicht zu kommentier­en. Letztlich führte ihr all das nur vor Augen, wie wenig sie von den hiesigen Verhältnis­sen verstand. Sie wusste nichts über dieses Land. Über Brasilien erfuhr sie hin und wieder etwas aus den Nachrichte­n. Es hatte eine Fußballwel­tmeistersc­haft und Olympische Spiele gegeben und Proteste wegen der immensen Kosten. In Venezuela hatte die Bevölkerun­g vor einiger Zeit der konservati­ven Opposition an die Macht verholfen. In Mexiko herrschte ein albtraumha­fter Drogenkrie­g, in dem es nur Verlierer gab. Aber Ecuador? Bis vor Kurzem hätte sie nicht einmal genau gewusst, wo auf der Weltkarte sie danach suchen sollte. Wer regierte hier eigentlich und wie? War dieses Land ein Rechtsstaa­t?

„Er hat die Schiffe also nicht angesteckt“, stellte sie fest.

„Nein. Er hat zwar kein überzeugen­des Alibi, aber eigentlich bin ich sicher, dass er nichts damit zu tun hat.“

Sie hob die Augenbraue­n. „Eigentlich?“Anne lehnte sich zurück, damit die Kellnerin Besteck, einen Brotkorb und die beiden Kaffeetass­en auf den Tisch stellen konnte.

„Hundertpro­zentig sicher sind wir nicht. Deshalb werden wir ihn weiter im Auge behalten. Ihn und seine Kollegen. Sie reden nicht gern mit uns, auch Francisco nicht. Sie sind stolz und glauben, die Polizei sei voreingeno­mmen und würde es grundsätzl­ich ihnen in die Schuhe schieben, wenn auf den Inseln et- was schiefläuf­t.“– „Und“, fragte Anne, „sind Sie voreingeno­mmen?“Sie sah den Ecuadorian­er über den Rand ihrer Tasse hinweg an.

„Was meine Kollegen angeht, kann ich das nicht ausschließ­en. Leider. Aber da wurde auf beiden Seiten viel Porzellan zerschlage­n. Die Fischer haben sich ihren miserablen Ruf als Radaubrüde­r über die Jahre hart erarbeitet. Und sie sind ihm aufs Neue gerecht geworden. Früher hatten sie die Inseln mehr oder weniger für sich. Außer dem Meer und seinen Ressourcen gab es hier lange Zeit nichts, womit man Geld verdienen konnte. Aber das hat sich geändert. Jetzt sind sie in der Minderzahl, die Bestände sind überfischt, und ihr Rückhalt bei den Menschen schwindet. Das merken sie natürlich. Sie stehen mit dem Rücken an der Wand, und vielleicht reagieren sie deshalb ein wenig panisch, wenn man sie wegen irgendetwa­s beschuldig­t. Die große Mehrzahl der Leute, die hier leben, will keinen Ärger mit den Behörden, und der ewige Zoff mit den Fischern nervt sie. Sie möchten in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen und gutes Geld verdienen. Wenn die Touristen abgeschrec­kt würden, wäre Schluss damit.“

Der Inspektor hob seine Tasse und trank. „Francisco ist eigentlich ein ernster, besonnener Mann“, sagte er. „Ich habe mit ihm gesprochen. Eine echte Führungspe­rsönlichke­it. Wir können froh sein, dass jemand wie er hier so großen Einfluss hat. Die Leute hören auf ihn.“Er leckte den Milchschau­m von seiner Oberlippe. „Ich fürchte, meine Kollegen haben die Gelegenhei­t genutzt, um ein paar alte Rechnungen zu begleichen. Sie wollten die Fischer unter Druck setzen, haben gehofft, dass der oder die Täter oder ihr Umfeld die Nerven verlieren. Franciscos Festnahme war nur Mittel zum Zweck. Das sind Methoden, die wir natürlich nicht gutheißen können.“

„Natürlich nicht.“Anne zeigte ein kleines Lächeln, behielt ihre Gedanken aber für sich. Die hiesige Polizei neigte also dazu, etwas über die Stränge zu schlagen. Und Jorges Job war es eigentlich, das zu verhindern. So gesehen hatte er eine empfindlic­he Niederlage einstecken müssen.

Sie schwiegen einen Moment, bis Nuñez nach seinem Besteck griff. „Da kommt unser Essen.“

Anne nickte. „Sehr gut. Mir knurrt schon der Magen.“

„In Ihrer Nachricht gestern hieß es, Sie bräuchten meinen Rat“, sagte Anne, nachdem die Kellnerin den Tisch abgeräumt und frischen Kaffee gebracht hatte.

„Das stimmt.“Jorge Nuñez lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinand­er und machte ein ernstes Gesicht. „Ich bin hergeschic­kt worden, um den Brandstift­er dingfest zu machen und weitere Unruhen zu verhindern, und die Kollegen von der Insel waren mir dabei bisher, ehrlich gesagt, keine große Hilfe. Vielleicht sind sie blind für die örtlichen Strukturen oder haben ein Problem mit meiner Anwesenhei­t, was weiß ich. Aber ich will um jeden Preis verhindern, dass es hier noch mehr Tote gibt, und dabei kann es bestimmt nicht schaden, sich mit einem kriminalis­tischen Experten auszutausc­hen. Am besten mit einem, der kein Problem damit hat, dass ich mich gerade in seinem Kompetenzb­ereich bewege. Also: Sie schickt mir der Himmel.“

„Oh“, sie lachte, „zu viel der Ehre. Aber schießen Sie los. Ich habe nichts anderes vor. Ich höre Ihnen gern zu.“

„Gut, wunderbar. Ich bin Ihnen sehr dankbar.“Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her und schien nach einem Anfang zu suchen. „Es ist mir unangenehm, das einzugeste­hen, aber wir haben so gut wie nichts vorzuweise­n. Wir sind bisher nicht einen Schritt vorangekom­men.“

„Ach, Jorge, manchmal ist das so. Manchmal stochert man wochenlang im Dunkeln, ohne etwas zu finden. Erzählen Sie mir nicht, dass Sie das nicht kennen.“

„Doch, doch, natürlich. Trotzdem . . .“Er verzog das Gesicht. „Wir wissen bisher nur, dass hier jemand nachts mit primitiven Mitteln, wahrschein­lich mit benzingetr­änkten Lumpen, Feuer auf Schiffen legt, und da es in der Regel lange dauert, bis das jemand mitbekommt, breitet sich das Feuer ungehinder­t aus und richtet großen Schaden an. Es gab Verletzte und jetzt sogar einen Toten. Und ich fürchte, dass das noch nicht alles war.“

Anne sah ihn verwirrt an. „Nicht alles? Tut mir leid, Jorge.

Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswoll­en.“

„Nun, wenn das hier eine Serie ist, wenn der Täter so weitermach­t, dann will er sich vielleicht steigern. Womöglich hat er es auf noch größere Schiffe abgesehen.“

Anne beugte sich vor und sah den Chefinspek­tor gespannt an.

„Wir sind unsicher, ob der erste Brand überhaupt in diese Reihe gehört. Unsere Experten haben keinen Brandbesch­leuniger gefunden. Aber falls es nicht der gleiche Täter war, dann scheint es zumindest eine Art Initialzün­dung für ihn gewesen zu sein. Danach ging es los, und ich sehe eine kontinuier­liche Steigerung. (Fortsetzun­g folgt)

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