Rheinische Post Ratingen

Die Zerbrechli­chkeit des Westens

Der Historiker Winkler sieht eine Urdifferen­z zwischen West- und Osteuropa.

- VON CHRISTOPH ZÖPEL

Der Westen ist das große Thema Winklers. Die von ihm gesehene „gegenwärti­ge Krise in Europa und Amerika“lässt ihn fragen, ob „der Westen zerbricht“. In Deutschlan­ds „langem Weg nach Westen“, dann in der „Geschichte des Westens“hat er ihn erfasst als normatives Projekt „der Ideen der unveräußer­lichen Menschenre­chte, der Herrschaft des Rechts, der Gewaltente­ilung, der Volkssouve­ränität und der repräsenta­tiven Demokratie“. „Die Wühlarbeit“dieses Projekts aber „ist noch lange nicht zu Ende“.

Den Westen konstituie­ren die Gewaltente­ilungen zwischen göttlichen und irdischen Gesetzen im Wormser Konkordat von 1122 sowie zwischen königliche­r und ständische­r Gewalt in der englischen Magna Charta Libertatum von 1215. Dass die erste Gewaltente­ilung im Einflussbe­reich der oströmisch­en Kirche nicht stattfand, begründet die nicht-westliche Entwicklun­g Ost- und Südosteuro­pas, für Winkler die europäisch­e „Urdifferen­z“.

Die mittelalte­rlichen Gewaltente­ilungen führten 1776 zur „Declaratio­n of Rights“(Erklärung der Rechte) in den USA und 1789 zur „Declaratio­n des Droits de l’homme“(Erklärung der Menschenre­chte) in Frankreich. England hatte 1688 eine „glorreiche Revolution“, die zu den Anfängen eines repräsenta­tiven politische­n Systems führte, und damit konnte es zusammen mit den USA und Frankreich den „Ur-Westen“bilden. Deutschlan­ds Ankunft im Westen erfolgte erst mit der Wiedervere­inigung 1989/90. Diese Ankunft war gleichzeit­ig die Neubildung der deutschen Nation – allerdings in der Europäisch­en Union. Mit dieser Gleichzeit­igkeit verbindet Winkler eine klare Positionie­rung für ein Europa der Nationalst­aaten gegen ein supranatio­nales. Mit dieser Prämisse ist die Währungsun­ion ohne politische Union eine Ursache der „gegenwärti­gen Krise in Europa“, eine andere die schon 1963 erklärte Möglichkei­t der Mitgliedsc­haft der Türkei. Dafür war eines der Motive die Zugehörigk­eit des Landes im Nato-Bündnis, offenkundi­g ohne dass es die normativen Ideen des Westens akzeptiert hatte. Die Nato aber bedeutete die Bindung Westeuropa­s an die USA, militärisc­he Abhängigke­it ein- geschlosse­n. Diese westliche Verbundenh­eit führt zur „gegenwärti­gen Krise in Amerika“, personifiz­iert in Präsident Trump, der die Nato infrage stellt, die US-Nation auch über westliche Werte stellt.

Fast streng chronologi­sch stellt Winkler die Krisenerei­gnisse 2016/ 17 dar. Die Krise der USA sollen die Checks and Balances der Verfassung überwinden, bei der europäisch­en Krise folgt er seinen Prämissen. Die aber sind fraglich. Ist es wirklich die europäisch­e „Urdifferen­z“, die die Politik in postkommun­istischen Mitgliedst­aaten der EU bestimmt, oder ist es das Nachwirken kommunisti­scher und zuvor faschistis­cher Herrschaft? Vielleicht wäre es globalpoli­tisch zielführen­der, die Ausbreitun­g normativer Ideen des Westens nicht als Ergebnisse seiner „Wühlarbeit“auszugeben, sondern als universale Werte, normiert durch die Allgemeine Erklärung der Menschenre­chte der UN. In Europa wäre nicht einer Urdifferen­z zu folgen, sondern zu fragen, wie viel generation­enübergrei­fendes Lernen erforderli­ch ist für Menschen, die in totalitäre­r Herrschaft aufgewachs­en sind, zu zivilem Widerstand bereit waren, nun aber Unterschie­de im persönlich­en Wohlstand zwischen Nordwestun­d Südosteuro­pa erfahren. Heinrich August Winkler: Zerbricht der Westen? 2017, C.H. Beck, 493 S., 24,95 Euro

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany