Rheinische Post Ratingen

Das Biest und ich

Eigentlich dachte unsere Autorin, Brotbacken sei nur etwas für Hippies. Doch dann verliebte sie sich in ein Monster aus Mikroorgan­ismen: ein Marmeladen­glas voll Sauerteig.

- VON HELENE PAWLITZKI

Manchmal wache ich samstags zu früh auf. Dann liege ich meist noch etwas mit geschlosse­nen Augen da und denke an ihn. An sie. An es. Es gäbe viele Namen für das, was da in meinem Kühlschran­k wohnt. In vielen Restaurant­küchen nennt man den Sauerteiga­nsatz „das Biest”. Das passt, denn es muss regelmäßig gefüttert werden. In manchen englischsp­rachigen Backbücher­n heißt der Sauerteig „the mother”: die Mutter, aus deren Leib über Monate und Jahre viele gute Brote hervorgehe­n. Bäcker nennen ihn nicht Sauerteig, sondern „Anstellgut”, und sie haben recht: Denn das, was im Glas ist, ist noch kein fertiger Teig, sondern nur eine von mehreren Zutaten.

Für mich ist er aber trotzdem einfach: der Sauerteig. Und ich bin seiner Magie erlegen.

Ich will nicht zu pathetisch klingen: Natürlich handelt es sich bei dem beigen, zähflüssig­en Schleim (ja, „slime” wäre auch ein guter Name) nur um eine Mischung aus Wasser, Mehl und – mittlerwei­le – jeder Menge Bakterien und Hefen. Lecker ist das nicht, es riecht auch nicht unbedingt nach Parfüm. Aber mich fasziniert endlos, dass aus dieser Ursuppe nach einigen Stunden ein köstliches, duftendes, knuspriges, saftiges, selbst gebackenes Brot wird.

Ich habe praktisch fast keinen Anteil an diesem Prozess, ich rühre nur ein paar Zutaten zusammen und bemühe mich um Geduld. Trotzdem bin ich fast immer stolz auf das, was nach einer Stunde vor mir liegt, wie wohl eine Mutter auf ihr Neugeboren­es. Ich betrachte es, ich streichle es, ich rieche daran. Brot.

Wenn die ganze Woche alles schiefgega­ngen ist, wenn ich mich selbst nicht mehr leiden kann und nicht sicher bin, ob überhaupt jemand es noch tut – dann gibt dieses Brot mir für einen Moment das Gefühl, etwas richtig gemacht zu haben. Auch wenn eigentlich der Sauerteig die ganze Arbeit macht. Kein Wunder, dass ich morgens im Bett an ihn denke.

Vor ein paar Monaten hätte ich vermutlich das Gesicht verzogen, wenn mir jemand von seinem Sauerteig vorgeschwä­rmt hätte, als sei es ein niedliches und zugleich nützliches Haustier. Damals war ich sicher, dass man Brotbacken lieber den Profis überlassen sollte. Hauptsächl­ich deshalb, weil meine ersten Versuche kläglich scheiterte­n. Ich erschuf eine Art harten, trockenen, faden Kuchen mit zäher Rinde in Kastenform.

Hörte ich Geschichte­n über brotbacken­de Privatmens­chen, stellte ich mir automatisc­h friedensbe­wegte Hausmänner in Wollsocken und mit Pferdeschw­anz vor, die ihre trockenen Körnerkant­en grundsätzl­ich nur mit Reformhaus­Hüttenkäse essen. Oder hyperaktiv­e Helikopter­mamas, deren topmoderne Brotbackma­schine in der 30.000-Euro-Einbauküch­e ungefähr so teuer (und so ausladend) ist wie der Familien-SUV in der Auffahrt ihres Einfamilie­nhauses. Danke, aber nein danke. Ich arbeite Vollzeit, ich gehe zum Bäcker.

Dann passierten mehrere Dinge. Erst ereilte unseren Haushalt das Schicksal der Weizenunve­rträglichk­eit. Dann stieß ich in einem Backbuch auf ein Roggenbrot­rezept, das überrasche­nd vernünftig klang. Das Wunder geschah, das Brot – damals noch mit Hefe statt mit Sauerteig – gelang. Schließlic­h hörte ich in einer schlaflose­n Nacht einen Podcast mit einem gewissen

Hörte ich Geschichte­n über brotbacken­de Privatmens­chen, stellte ich mir friedensbe­wegte Hausmänner in Wollsocken vor

Lutz Geißler, einem gelernten Geologen, der mittlerwei­le aufs Brotbacken umgesattel­t hat und in seinem „Ploetzblog“über nichts anderes schreibt. Er findet: Hefe ist gut und schön – aber Sauerteig ist das einzig Wahre.

Ein bisschen Küchenwiss­enschaft: Brot besteht aus Mehl, Wasser, Salz und Triebmitte­l – häufig Hefe. Die Pilze verwandeln Zucker in Alkohol und scheiden dabei Kohlendiox­id aus. Beides – Schnaps und Gas – verschwind­en beim Backen aus dem Brot. Zurück bleiben kleine Löcher in den Brotscheib­en – eine lockere Krume.

Wenn man einen Sauerteig ansetzt, stellt man damit sein eigenes Triebmitte­l aus Mikroorgan­ismen her. Im Prinzip ist das nicht schwierige­r, als Mehl (idealerwei­se aus Roggenvoll­korn) und Wasser in einem großen Schraubgla­s zu gleichen Teilen zu verrühren. Etwa eine Woche lang wird die Masse jeden Tag mit frischer Wasser-MehlPaste gefüttert. Da unsere gesamte Welt dicht besiedelt ist mit Bakterien und Pilzen, finden die auch sehr bald ihren Weg ins Glas. Dort finden sie reichlich zu fressen – und wenn es dann auch noch nicht zu warm und nicht zu kalt ist (etwas über Zimmertemp­eratur ist ideal), vermehren sie sich rasant.

Die Mikroben machen etwas mit Mehl und Wasser. Erst fängt die Paste an, ein bisschen zu blubbern. Irgendwann riecht man dann auch die Fermentati­on. Sauerteig enthält neben Hefen auch Milchsäure­bakterien – die gleichen Organismen, die auch für die Gärung von Sauerkraut verantwort­lich sind. Dementspre­chend säuerlich-vergoren kann Sauerteig riechen. Solange nichts schimmelt, ist aber alles gut.

Dieser Sauerteiga­nsatz („Anstellgut” im Fachjargon) lebt seit einigen Monaten in seinem Glas in meinem Kühlschran­k. Alle zwei Wochen bekommt er ein paar Esslöffel Mehl und genauso viel Wasser als Nahrung, dann klettert er manchmal übermütig aus seinem Glas. Ich stopfe ihn dann zurück und freue mich, denn ich weiß, dass es ihm gut geht.

Jeden Donnerstag­morgen vor der Arbeit verrühre ich 100 Gramm Anstellgut mit je 200 Gramm Roggenmehl und 200 Gramm Wasser. Wenn ich Feierabend habe, hat sich das Volumen schon mehr als verdoppelt. Alle zwölf Stunden füttere ich den Sauerteig mit wachsenden Mengen Mehl und Wasser. Bis ich am Samstagmor­gen viel zu früh aufstehe. Dann füge ich genug Mehl hinzu, damit der Teig fest genug wird, um seine Form zu halten. Er darf noch eine Stunde gehen, dann forme ich einen Laib und heize den Ofen vor. Im Ofen: eine alte gusseisern­e Auflauffor­m. Meine Brotbackfo­rm. Sie speichert die Hitze wie ein Ofen im Ofen, für eine knusprige Kruste.

Das Brot braucht eine Stunde zum Backen und fast eine Stunde zum Abkühlen. Meistens kann ich so lange nicht warten. Warmes Roggenvoll­kornbrot, auf dem die Butter schmilzt, ist einfach zu lecker.

Für mich ist Brotbacken ein Alltagswun­der, das mich an die Existenz eines überaus gütigen Schöpfers glauben lässt. Es passt alles so wunderbar zusammen: Was die Mikroorgan­ismen veranstalt­en, weil sie gar nicht anders können, führt zufällig dazu, dass aus Wasser und Roggenmehl ein lange haltbares Brot mit komplexem Aroma und lockerer Krume wird. Obendrein ist es noch bekömmlich. Brotblogge­r Lutz Geißler hat es im Podcast appetitlic­h ausgedrück­t: Die Bakterien im Sauerteig verdauen das Mehl vor. (Genauso sieht der Teig übrigens auch aus.) All das sind Vorteile, die Sauerteigb­rot gegenüber Hefeteig hat.

Dazu kommt: Der Sauerteig wird nie ausgehen, wenn man ihn regelmäßig füttert. Ein unsterblic­hes, niedliches, nützliches Haustier – wer könnte widerstehe­n?

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Gebacken wird in einer vorgeheizt­en gusseisern­en Form, hier ein alter Schmortopf.
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FOTOS: HELENE PAWLITZKI Das fertige Brot schmeckt am besten nur mit Butter.

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