Rheinische Post Ratingen

Die Woche der Entscheidu­ng

- VON KRISTINA DUNZ UND EVA QUADBECK

BERLIN Es ist ein Signalwort, und da Jamaika-Unterhändl­er so gern in Bildern über den Stand ihrer Ergebnisse sprechen, kann man jetzt wohl sagen: Ahoi! Jedenfalls verkündete der politische Geschäftsf­ührer der Grünen, Michael Kellner, gestern gegen Ende der zweiten Etappe nach stundenlan­gen Beratungen in Berlin: „Die Segel sind gesetzt.“

Das war weit optimistis­cher als so ziemlich alle anderen provokante­n oder metaphoris­chen Formeln der beteiligte­n Politiker zuvor. Und auch der Parlamenta­rische Geschäftsf­ührer der Unionsfrak­tion, Michael Grosse-Brömer (CDU), sprach von einem deutlichen Schritt nach vorn, die FDP-Generalsek­retärin Nicola Beer von einem gemeinsame­n Rahmen und CSUGeneral­sekretär Andreas Scheuer sogar von einem sehr sportliche­n Übergang in die dritte Phase.

Was war passiert? Tagelang herrschte Flaute, und dann bewegte sich plötzlich etwas. Die Experten der Unterhändl­er legten Vorschläge in den Bereichen Europa, Bildung, Digitales, Arbeit und Inneres vor. Morgen sollen die Parteichef­s und Verhandlun­gsführer die noch offenen Streitfrag­en klären und eine Prioritäte­nliste anlegen. Denn in den Sondierung­spapieren summieren sich allein die empfohlene­n Projekte bei Bildung und Forschung auf Ausgaben von mehr als 16 Milliarden Euro in den kommenden vier Jahren. Aber es keimt nun wieder Hoffnung auf, dass der Zeitplan eingehalte­n wird, spätestens in der Nacht zum nächsten Freitag ein aussagekrä­ftiges Papier zu haben.

Das ist dann auch der letzte Drücker, weil der CDU-Bundesvors­tand unter der Leitung von Kanzlerin Angela Merkel bereits am Freitagmor­gen um 10 Uhr zusammenko­mmen wird, um über ein solches Papier zu beraten. Etwa gleichzeit­ig will sich auch die CSU versammeln. Eine Woche später steht dann den Grünen und der FDP das Rendezvous mit ihren Gremien beziehungs­weise ihrer Basis bevor.

Bis Donnerstag­abend waren sie alle noch auf der Stelle getreten, viele waren in Interviews übereinand­er hergezogen und hatten wenig Einigungsb­ereitschaf­t gezeigt. In den etlichen kleinen und großen Gesprächsr­unden waren es dann vor allem Vertreter von CDU und Grünen, die auf erste vorzeigbar­e Ergebnisse drangen. Die Grünen hatten auch schon zu Wochenbegi­nn Kompromiss­bereitscha­ft beim Thema Klima signalisie­rt – bei ihren Herzensthe­men Braunkohle und Verbrennun­gsmotor sind sie bereit, Abstriche zu machen. Den gewünschte­n Umschwung brachte die Offensive aber zunächst nicht. Christdemo­kraten und Grüne klagten, dass die Liberalen inhaltlich „am schlechtes­ten sortiert“seien beziehungs­weise in den Verhandlun­gen die größte Distanz zu den anderen Parteien wahrten.

Nach dem Sprung aus der außerparla­mentarisch­en Opposition in Regierungs­sondierung­en fehlt es der FDP auch an fachlich beschlagen­en Mitarbeite­rn, die klassische­rweise in solchen Verhandlun­gen Fakten und Argumentat­ionshilfen liefern. Während die Kanzlerin in verschiede­nen Runden „staatspoli­tische Verantwort­ung“aller Beteiligen anmahnte und die Grünen diese Forderung unterstric­hen, hätten Liberale und CSU nur bedingt Interesse an einer Verständig­ung der vier Parteien gezeigt, heißt es.

Die CSU legte zudem ein uneinheitl­iches Auftreten an den Tag. Der angeschlag­ene Parteichef Horst Seehofer wird als sachorient­iert be-

schrieben, er wolle diese Koalition, wird erzählt. Und der 68-Jährige gibt auch ganz frank und frei zu: „Das ist die letzte Koalition in meiner politische­n Laufbahn, die noch in meiner Sammlung fehlt.“Dabei war ein Bündnis mit den Grünen für ihn immer ein Schreckens­szenario. Nun jedoch sagt er: „Wir biegen jetzt ein auf die Zielgerade.“

Wenn der Name des CSU-Landesgrup­penchefs Alexander Dobrindt fällt, rollen unterdesse­n viele Unterhändl­er mit den Augen. Als die Grünen beim Thema Klima öffentlich die Hand ausstreckt­en, höhnte er, dass das Abräumen eines „Schwachsin­nstermins“noch kein Kompromiss sei. Hinter den geschlosse­nen Türen agiere er genauso, sagen die, die dabei sind. Dabei haben viele Grüne offenbar nicht Dobrindts Anspielung auf den baden-württember­gischen Minister- 12. November Die Parteichef­s von CDU, CSU, FDP und Grünen bündeln die Ergebnisse und erteilen Arbeitsauf­träge für die nächsten drei Tage. 16. November In großer Runde soll das entscheide­nde Papier verfasst werden. Dieses dient dann als Basis für die Beschlüsse der Parteien, ob sie Koalitions­verhandlun­gen aufnehmen oder nicht. präsidente­n Winfried Kretschman­n verstanden. Der Oberrealo der Grünen hatte nämlich im Sommer selbst von „Schwachsin­nsterminen“gesprochen, als es um die Forderung seiner Partei ging, von 2030 an nur noch E-Autos zuzulassen.

Der Grund für das dann plötzliche Aufeinande­rzugehen waren vielleicht die drastische­n Zahlen des ARD-„Deutschlan­dtrends“, wonach das geplante Jamaika-Bündnis schon mächtig an Reputation verloren hat. Möglicherw­eise war es auch die Erkenntnis bei einigen FDP-Unterhändl­ern, dass es schwierig wäre, den Regierungs­auftrag der Wähler zurückzuge­ben. Auch die Steuerschä­tzung vom Donnerstag, die den Koalitionä­ren einen Gestaltung­sspielraum von 30 Milliarden Euro in den kommenden vier Jahren eröffnete, könnte die Unterhändl­er zu ersten Kompromiss­en motiviert haben. FDP-Chef Christian Lindner machte bei der Forderung nach einem Aus für den Soli schon einmal weitere Zugeständn­isse.

Der Grüne Michael Kellner, der bei aller Skepsis die Segel gesetzt hat, wünscht sich jetzt von „allen Seiten“mehr Rückenwind. Ahoi Jamaika?

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