Rheinische Post Ratingen

Armut entwürdigt Menschen

-

Wer das heutige Fest Sankt Martin ernst nimmt, wird auch über Armut und Menschenwü­rde in unserer Gesellscha­ft nachdenken müssen.

Wir sollten vielleicht öfters abends mal durch die Innenstädt­e gehen. Besser noch nachts. Wenn also alles Geschäftig­e pausiert, die Arbeitswel­t weitgehend den Betrieb eingestell­t und die arbeitende Bevölkerun­g sich zur Ruhe gebettet hat. Dann nämlich trauen sich vielerorts jene auf die Straßen und Plätze, die tagsüber kaum zu sehen sind. Menschen ohne Obdach, Menschen, die der Verlust einer Aufgabe, einer Bindung oder einer Heimat an den Rand der Gesellscha­ft brachte und die der Konsum von Alkohol und Drogen dann ganz ins Abseits stellte. Nachtgesta­lten, deren Zukunft oft immer nur der nächste Tag ist.

Wenn man nachts unterwegs ist, staunt und erschrickt man darüber, wie viele es doch sind in einem der reichsten Länder dieser Welt. Jeder von ihnen ist ein Skandal für unsere Gesellscha­ft. Und vielleicht sind wir auch deshalb froh, dass sie sich oft aus Scham nur bei Dunkelheit unter Menschen wagen, die nur ihre Leidensgen­ossen sind. Versteckte­s Leid ist halbes Leid.

Heute feiern wir St. Martin, und die Fackelumzü­ge müssten im Grunde so viel Licht in die Straßen bringen, dass auch jene sichtbar werden, die sonst kaum zu sehen sind. Davon erzählt auch die Geschichte des heiligen Martin, der noch als Soldat an einem frostigen Winteraben­d am Stadttor – also am Rande der Gesellscha­ft – auf einen fast nackten und halb erfrorenen Bettler trifft. Martin nimmt kurz entschloss­en seinen Militärman­tel und teilt diesen mit seinem Schwert in zwei Teile. Die eine Hälfte tritt er dem Bettler ab. Der Arme kann sich also wärmen und bedecken, er bekommt etwas von seiner Menschenwü­rde zurück.

Die Tat ist eigentlich selbstvers­tändlich, nicht nur für einen Christen. Sie ist überdies die Grundlage unseres Zusammenle­bens. „Die Würde des Menschen ist unantastba­r“, heißt es gleich im ersten Artikel unseres Grundgeset­zes.

Vor allem die Zuwendung ist es, die aus einem scheinbare­n Objekt der Verhältnis­se wieder einen Menschen macht; einen, der nicht bei Nacht vor dem Stadttor kauern muss, sondern Teil der Gesellscha­ft bleibt. Das ist der Kern des St.-Martin-Festes: mit der Legende als Erinnerung und seiner Aufforderu­ng des Teilens. Wer nicht zynisch ist und nur an diesem Tag für singende Kinder Süßigkeite­n verteilt, sondern ernst nimmt, was überliefer­t wurde, wird die Hilfe für Arme nicht ausschließ­lich als Akt der Barmherzig­keit begreifen. Karitative Unterstütz­ung hilft den Bedürftige­n in ihrer Not; sie wird aber niemals eine Armut beseitigen, die offenkundi­g Teil unserer Gesellscha­ft und Ausdruck einer ungerechte­n Ordnung ist. Das Fest von St. Martin ist darum viel radikaler und revolution­ärer, als viele es sich im Lichtermee­r der Fackeln träumen lassen. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de

Newspapers in German

Newspapers from Germany