Ein Großer geht
Als feststeht, dass Italien die WM verpasst, zeigt Torhüter Gigi Buffon, warum der Fußball ihn vermissen wird.
MAILAND/DÜSSELDORF Als alles vorbei ist, fließen die Tränen. Vorher hat Gianluigi Buffon (39) seine Kollegen getröstet. Er hat den Schweden gratuliert, und er hat sicher jeden in den Arm genommen, der an diesem denkwürdigen Abend noch auf dem Rasen des San Siro in Mailand steht. Dann erklärt er seinen Rücktritt aus der italienischen Nationalmannschaft. Durch ein torloses Unentschieden im Play-offRückspiel verpasst Italien zum ersten Mal seit 60 Jahren die Teilnahme an einer Weltmeisterschaft. „Es tut mir nicht für mich persönlich leid, sondern für die Mannschaft und das ganze Land“, sagt Buffon, „wir haben etwas verpasst, das auf so verschiedenen Ebenen so viel bedeutet hätte.“Und er weint.
Es ist nicht nur ein großer Mann, der jetzt die große Bühne der Länderspiele verlässt. Es ist auch ein öffentlicher Mann. Italien hat Gigi Buffons Weg begleitet. Das Kapitel künftiger Welttorhüter wird 1995 in Parma aufgeschlagen. Der Trainer stellt ausgerechnet gegen die kleine Weltauswahl des AC Mailand einen schlaksigen 17-Jährigen ins Tor. Bei Milan spielen Stars wie Franco Baresi, Paolo Maldini und George Weah. Sie alle scheitern an Gianluigi Buffon, den alle nur Gigi nennen.
Für Parma macht er 168 Spiele, und 2001 wechselt er zu Italiens größtem Klub, zu Juventus Turin. Schlaksig ist er schon lange nicht mehr, er hat sich die Muskeln eines Vorzeigeathleten antrainiert. Seine Anhänger werden nicht nur auf dem Feld bestens unterhalten. Auch Geschichten um ein gefälschtes Abiturzeugnis, mehrere Pleiten bei Beteiligungen an Wirtschaftsunternehmen und an seinem Heimatklub US Carrarese, Verwicklungen in einen großen Wettskandal und seine Depressionen finden vor den Augen der Öffentlichkeit statt.
Italien erlebt ganz nebenbei den Reifeprozess eines anfangs ein wenig wirren jungen, 1,91 Meter großen Kerls zu einem Charakterdarsteller der ganz seltenen Art. Sein Wort bekommt Gewicht, und in 22 Jahren als Torwart hinterfragt er das Geschäft ebenso wie seinen Beruf. Der Mann, der mit seiner Ausstrahlung und seiner Größe eine ganze Spielhälfte buchstäblich beherrschen kann, lässt die Fußballfreunde an seinen Selbstzweifeln teilhaben. „Unterläuft mir ein Fehler, stehe ich unter Schock, weil ich es nicht gewohnt bin“, sagt er während der Europameisterschaft im vergangenen Jahr dem „Kicker“, „dann brauche ich oft zehn Tage, um meine Balance wiederzufinden. Ich beneide Spieler, die häufig patzen, denn für sie ist ein Fehler kein wirkliches Schockerlebnis.“
Buffon hat in seiner Karriere in mehr als 1000 Spielen als Profi nicht viele Fehler gemacht. Er ist Weltmeister geworden und italienischer Serienmeister, nur in der Champions League ist ausgerechnet der Perfektionist unter Europas Torleu- ten dreimal im Finale gescheitert – zuletzt 2017.
Er hat das 1:3 gegen Real Madrid ebenso ertragen wie die wenigen anderen großen Niederlagen in seinem Leben, von denen die größte wohl nun diese letzte in seiner Laufbahn als Nationalspieler ist. Obwohl man in seinem Gesicht lesen kann, weil er auch in dieser Hinsicht ein offener Mensch ist, geht ihm die furchterregende Verbissenheit so mancher Berufskollegen ab. Er kann nach den Spielen umstandslos in den Normalmodus zurückschal- ten. Und er räumt gern ein, dass ihm die großen Aufgaben durchaus Respekt abverlangen. Natürlich habe er Angst vor Endspielen, hat er im Sommer gesagt, „aber das ist die nötige Angst, die man hat, wenn solche Wettkämpfe bestritten werden. Man muss den Mut finden, diese Angst zu besiegen, meistens gelingt mir das. Deswegen fühle ich mich stärker als die, die keine Angst haben oder sagen, dass sie keine haben“. Gigi Buffon hat nicht mal Angst vor den Tränen. Das macht ihn erst recht zu einem großen Mann.