Rheinische Post Ratingen

Abgrund

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Sie wusste definitiv, dass es sich um eine Übersetzun­g handelte, denn Isabelle hatte ihr erzählt, dass sie den Text zuerst auf Englisch verfasst und danach ins Deutsche und Spanische übertragen hatten. Für die deutsche Version war David zuständig gewesen.

Wieder schrieb sie die fraglichen Passagen in die dafür vorgesehen­en Spalten, und es war nun keine große Überraschu­ng mehr, dass sich auch die deutsche Fassung als eine stark gekürzte Kopie des Flugblatte­s entpuppte und zahlreiche haarsträub­ende Fehler enthielt. Für eine schnelle Gegenübers­tellung der spanischen Passagen reichten ihre Sprachkenn­tnisse nicht. Sie überlegte kurz, ob sie einen der spanischen Stationsmi­tarbeiter um Hilfe bitten sollte, doch dann hätte sie auch gleich per Lautsprech­eransage verkünden können, woran sie hier gerade arbeitete. Sie wollte nicht riskieren, dass sich ihre Recherchen herumsprac­hen. Und letztlich zweifelte sie nicht daran, dass sie auch in diesem Fall das gleiche Ergebnis erhalten würde.

Anne überflog die Textauszüg­e, die sie zusammenge­stellt hatte, noch ein letztes Mal, dann raffte sie alle Papiere zusammen, leerte in großen Schlucken ihre Kaffeetass­e und verschloss die Bungalowtü­r. Es bestand kein Zweifel mehr: Der eine Text hatte definitiv als Vorlage für den anderen gedient, der zudem in größter Eile zusammenge­schustert worden war. Die Frage war nur, von wem.

Sie fand Hermann unten am Wasser, auf der Terrasse des marinen Labors, wo auch das Flugblatt entstanden war. Er saß zwischen Alberto und Dieter an einem großen Holztisch, vor ihnen mehrere Stapel aufgeschla­gener Bücher, chaotische Haufen ausgedruck­ter Fotos, drei halb gefüllte Kaffeetass­en und zwei Laptops, deren Monitore Diagramme zeigten. Aus irgendeine­m Grund erregte dieser Anblick augenblick­lich Annes Zorn.

Sie erklomm rasch die Treppe, marschiert­e auf die Männer zu, begrüßte Hermanns Kollegen mit einem Kopfnicken und platzierte das Resultat ihrer Arbeit auf den Unterlagen, mit denen die drei sich gerade beschäftig­ten.

„He, was soll das?“, protestier­te Hermann, der zusammenge­zuckt war, weil er ihr Kommen nicht bemerkt hatte. „Ach, du bist’s, Anne. Wir versuchen hier gera . . .“

„Tut mir leid, wenn ich störe, aber ich habe das Gefühl, dass wir keine Zeit verlieren sollten. Sieh dir das bitte mal an“, sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruc­h duldete, und tippte dabei auf ihre Arbeit. Während Hermann und Dieter überrascht und ein wenig verärgert wirkten, bemühte sich Alberto, hinter vorgehalte­ner Hand ein Grinsen zu verbergen. – „Was ist das?“, fragte Dieter Grumme und sah Anne mit gerunzelte­r Stirn an.

„Hast du ihnen nichts erzählt, Hermann?“„Ich? Wieso? Ich . . .“„Jemand fackelt hier ein Boot nach dem anderen ab, womöglich jemand aus der Station, und ihr praktizier­t business as usual?“

„Doch, doch, Dieter und ich haben darüber gesprochen. Er hat schon kurz nach unserer Rückkehr davon erfahren. Aber wir sind Wissenscha­ftler, Anne, Biologen. Eine Brandstift­ung aufzukläre­n, ist Aufgabe der Polizei.“

„Vor dem Bungalow hast du eben noch behauptet, hier liefe etwas ganz schrecklic­h schief.“„Jaaa . . .“„Was soll denn schieflauf­en?“, fragte Dieter mit geröteten Wangen. Er blickte zwischen Hermann und Anne hin und her. „Irgendein Spinner hat Boote angezündet, das ist wirklich nicht unsere Angelegenh­eit, sondern die der örtlichen Behörden.“(Fortsetzun­g folgt)

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