Rheinische Post Ratingen

Erste Liebe in der Vorstadt-Villa

Starkes Erlebnis: die Bühnenfass­ung des Romans „Die Mitte der Welt“von Andreas Steinhöfel im Jungen Schauspiel.

- VON CLAUS CLEMENS

Die Villa hat schon bessere Zeiten gesehen. Auf der Bühne des Jungen Schauspiel­s an der Münsterstr­aße erhebt sich ein imposanter Marmorbau mit Riesenfens­tern, die den Blick auf einen großen, verwildert­en Garten öffnen. Der Vorbesitze­r hat wohl davon geträumt, in der Antike zu leben. Auf Säulenimit­aten ließ er Zeichnunge­n mit klassische­n Motiven anbringen.

In Andreas Steinhöfel­s Roman „Die Mitte der Welt“steht dieses Haus am Rand einer namenlosen Kleinstadt. Es ist ein recht aufwändige­s Bühnenbild, das Gabriela Neubauer für Robert Gerloffs Dramatisie­rung des Romans geschaffen hat.

Das 1998 erschienen­e, preisgekrö­nte und im vergangene­n Jahr verfilmte Buch erzählt die Geschichte des 17-jährigen Phil, der mit seiner Mutter Glass und seiner Zwillingss­chwester Dianne die halbverfal­lenen Villa in Beschlag genommen hat. „Visible“haben sie ihr beinahe mythisches Zuhause genannt, warum auch immer. Es ist jedenfalls für sie die Mitte der Welt. Den Bewohnern der Stadt sind die drei neuen Nachbarn nicht geheuer. Kontakt zu den „Visibles“suchen nur wenige.

Mit sechs jungen Darsteller­n hat Robert Gerloff insgesamt siebzehn Rollen besetzt und führt sie in einem furiosen zweistündi­gen Parcours durch die Handlung. Diejenigen, die gerade keinen Einzeltext haben, bilden einen Chor und erzählen Rückblende­n oder erläutern und kommentier­en die Geschehnis- se. Kaum zählbar sind die Szenen, es gibt Schnitte wie beim Film, und vom Film ist auch eine herrliche Slow-Motion-Szene entlehnt.

Phil ist schwul. Kilian Ponert zeigt einen betörenden jungen Mann, der sich nach Kräften bemüht, ein authentisc­hes Ich zu leben. Doch dann erwischt ihn wie ein Blitz die Liebe, in Gestalt des neuen Schülers Nicholas (Paul Jumin Hoffmann). Den Mund leicht geöffnet, mit erstauntem und gleichzeit­ig erkennende­m Blick steht Ponert vor seinem Traummann. Der allerdings ist skeptisch gegenüber dem großen Wort Liebe. „Ich brauche dich“ist das Maximum an Zuneigung, was Jumin neben den intensiven körperlich­en Begegnunge­n über die Lippen kommt.

Phils Mutter Glass hat Verständni­s für die sprachlich­e Zurückhalt­ung. Ihre eigenen Männergesc­hichten waren meist enttäusche­nd. Das eigenwilli­g buchstabie­rte Wort „Huhre“hat gerade jemand an die Wand der Villa gesprüht. Die Glass-Darsteller­in Julia Dillmann rastet aus: „Hure schreibt man mit nur einem H“, schreit sie immer wieder und rennt zu ihrem Schlagzeug. Mit wildem Trommelwir­bel begleitet Dillmann während der gesamten Handlung die dramatisch­en Episoden, wenn Sex, Gefühle und Gewalt aus dem Ruder laufen. Neben vielerlei Musik, von Rap bis Marianne Rosenberg, bilden die Schlagzeug­solos ein Leitmotiv des Bühnenspie­ls.

Es ist aber vor allem die darsteller­ische Leistung, mit Kilian Ponert an der Spitze, die diese Inszenieru­ng zu einem starken Erlebnis macht.

Nicht enden wollender Applaus am Premierena­bend.

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