Rheinische Post Ratingen

„Ich kann hier nicht weg. Wenn ich aufgebe, dann gibt es diese Schule nicht mehr“

- VON MARLON ROSEBERRY BÜNCK UND SANDRA ALEK

AVDIIVKA Es ist noch dunkel, wenn die 14-jährige Margarita aufwacht. Die Einrichtun­g ihres kleinen Zimmers in der ostukraini­schen Stadt Avdiivka nördlich von Donezk besteht aus einem einzigen großen Bettsofa und einem zusammenfa­llenden Schrank. Eine alte Nachbarin besucht die Familie, um dem Mädchen das lange, blonde Haar zu flechten, während seine Mutter das Frühstück vorbereite­t – Brote mit Butter, Fisch und Käse.

Jeden Morgen läuft Margarita eine Stunde zur Schule, seit dem Krieg fährt kein Bus mehr in ihrem Teil der Stadt. Die Stellungen der ukrainisch­en Armee befinden sich nur wenige hundert Meter von Margaritas Zuhause entfernt. Der das Haus umschließe­nde Zaun weist an vielen Stellen Durchschus­slöcher auf. Schrapnell­splitter und Streufeuer sind die tägliche Gefahr für die Bewohner. Trotz des Waffenstil­lstandes ist der östliche Teil der Industries­tadt häufig Mörserbesc­huss ausgesetzt.

Der Westen der Stadt wird geprägt von vielen Plattenbau­ten, die für die Arbeiter der großen Kokerei errichtet wurden, während der Osten aus dem alten Teil der Stadt und vielen kleinen Häusern besteht. Viele wurden bereits 2014 verlassen. In der Straße von Margarita sind von 130 Häusern nur noch 30 bewohnt. Jene, die hierbliebe­n, sind ältere Menschen, die sich keine Mietwohnun­g leisten konnten und aus Angst vor Plünderung­en in ihren Häusern blieben.

Margarita wohnt zusammen mit ihrer 59-jährigen Mutter. Auch die Mutter lebte wie so viele in der Stadt von der Kokerei, musste jedoch nach über 30 Arbeitsjah­ren aufgrund schwerer körperlich­er Beeinträch­tigungen aufhören. Es fällt ihr schwer, bei Gefahr in den Keller zu rennen, doch ihr Leben hängt davon ab. „Wenn die Granaten nachts einschlage­n, sammele ich am nächsten Morgen oft die Stücke im Garten auf. Wie kann ein Kind in so einer Umgebung leben und groß werden? Die Menschen leiden. Die Alten können ihre letzten Jahre nicht leben, und die jungen Menschen verlieren ihre Jugend an diesen Krieg.“

Seit 2014 hat sich die Situation nur wenig verbessert. Im Gegensatz zu damals sind nun keine weiten Wege mehr für Einkäufe und Medikament­e nötig. Das Jahr 2015 verbrachte die kleine Familie beinahe komplett im Keller, sie verlegten sogar Möbel dauerhaft dorthin. Kurze Zeit später wurde das Haus getroffen und die Familie im Mai 2016 evakuiert. „Die Soldaten kamen unter heftigem Artillerie­beschuss zu uns. Wir sollten mitkommen, unbedingt. Sie brachten uns zu einem gepanzerte­n Fahrzeug und fuhren uns nach Slawjansk. Wir kehrten jedoch nach vier Tagen zurück, denn das ist unser Zuhause. Ich bin enttäuscht über die Waffenstil­lstände, nie haben sie wirklich funktionie­rt. Ich will Frieden und dass meine Tochter nicht unter Lebensgefa­hr in die Schule laufen muss.“Ein frommer Wunsch, denn derzeit kann niemand sagen, wie dieser Konflikt beendet werden kann, der bereits mehr als 10.000 Tote gefordert und Zehntausen­de zu Flüchtling­en in eigenen Land gemacht hat.

Elena lehnt sich nach vorne. „Ich hoffe, dass der Waffenstil­lstand vielleicht dieses Mal hält. Meine Tochter wäre eine tolle Lehrerin. Früher passte sie auf alle Kinder in dieser Straße auf. Ich weiß nicht, welche Zukunft ich für sie sehen kann. Wir waren alle auf Donezk angewiesen, auf die Universitä­t, auf beinahe alles. Jetzt sind wir abgetrennt. Mir ist das Gehalt für sie egal. Ich hoffe, sie findet einen reichen Mann. Das ist eine Zukunft, die ich für sie sehe.“

Der Schulweg beträgt eine gute Stunde. Für Margarita eine gute Gelegenhei­t, mit ihrer besten Freundin und Klassenkam­eradin Nastia zu reden. Sie beruhigt Margarita, wenn morgens die Mörser einschlage­n. „Sie ist oft sehr ängstlich bei dem Geräusch. Ich erzähle ihr dann, dass sie sich nicht fürchten muss.“

„Meine Mutter rät uns immer, Abstand von Fenstern zu halten“, erzählt Margarita. „Sie schießen oft mit Maschineng­ewehren. Seit August sind zwei Kugeln durch meine Fenstersch­eibe geflogen. “Der Weg in die Schule führt beide Mädchen über verlassene Straßenzüg­e und überwachse­ne Wege. Die Sonne geht allmählich auf, das letzte Stück ist ein kleiner Wald auf einem Hügel. Nastia hebt ihren Finger und zeigt auf die in wenigen hundert Metern Entfernung sichtbaren Rohre. „Dort beginnt die andere Seite, Yasinovata­ya befindet sich dort.” Ein kleiner Hund rennt durch das Gebüsch zu den Mädchen. Nastia beginnt zu lachen. „Kurz nach Beginn des Krieges sind alle gegangen und haben ihre Tiere hiergelass­en. Es wohnen mehr Tiere als Menschen hier.“

Das weiße Schulgebäu­de wird sichtbar. Mörsergran­aten schlagen auf den Feldern ein, an denen sie gerade eben noch vorbeigela­ufen waren. Dann stehen Margarita und ihre Freundin vor der Schule Nr. 4 im alten Teil der Stadt, keine zwei Kilometer von der Konfliktzo­ne entfernt. Das alte Gebäude war eines der ersten Schulgebäu­de der Stadt und wurde 1904 errichtet. Im Hintergrun­d sind dumpfe Explosione­n zu hören, während die Eltern ihre Kinder vor der Schule verabschie­den.

Die Direktorin Oksana Vladimirov­na empfängt uns und beschreibt die Schule als ein wichtiges Stück Geschichte, dessen Wert erhalten bleiben müsse. Das Schulgebäu­de selbst begrüßt seine Besucher mit den Worten „Laskavo prosymo” auf einem neuen Plastiksch­ild an der von Separatist­en kontrollie­rt im Minsker Abkommen vereinbart­e Sicherheit­szone WEISSRUSSL. Fassade. Die Worte sind ukrainisch, wie auch die Lehrsprach­e an der Schule. Die neuen Schilder sind Ausdruck des kürzlich verabschie­deten Schulgeset­zes in der Ukraine, das eine stärkere Ukrainisie­rung der Lehrinhalt­e vorschreib­t. Viele Eltern beschweren sich darüber, dass nun im Unterricht unter den Schülern verstärkt ukrainisch gesprochen werden soll. Auch bei Margarita zuhause wird russisch gesprochen, sie ist russischsp­rachig aufgewachs­en und lernt Ukrainisch in der Schule. Im privaten Umgang findet die Sprache aber keine Anwendung.

Die Schulleitu­ng hingegen verteidigt das neue Gesetz, das die ukrainisch­e Sprache als Unterricht­ssprache obligatori­sch für die Sekundarst­ufe macht. Was bedeutet, dass die Minderheit­en spätestens zu diesem Zeitpunkt von ihrer Sprache ins Ukrainisch­e wechseln müssen. Der Verabschie­dung des Gesetzes ging eine heftige gesellscha­ftliche Diskussion voran. Vor allem die ethnischen Minderheit­en der Ukraine, darunter neben den Russen beispielsw­eise auch die Griechen im Südosten, äußerten ihre Bedenken. „Einige Eltern hatten Angst, dass dieses Gesetz die russische Sprache verbietet. Dem war nicht so, wir versuchen das aufzukläre­n. Die Minderheit­ssprachen sind Teil des Lehrplans und werden sogar bewusst gefördert, in unserem Fall Russisch“erzählt die Schulleite­rin, die noch zu Friedensze­iten ernannt wurde.

„2013 war noch ein friedliche­s Jahr in der Ukraine“, erinnert sie sich. „Ein Jahr später jedoch stand ich vor der Entscheidu­ng, die Schule zu schließen oder unter diesen Kriegsbedi­ngungen weiterzuma­chen. Trotz des Krieges hat diese Schule ihre Türen nie geschlosse­n. Auch wir Lehrer sind unter Bomben in die Schule gerannt, nur um zu unterricht­en. Wir beteten auf dem Weg in die Schule und zurück. Für uns und für die Kinder.“ Oksana Vladimirov­na Direktorin Schule Nr. 4 RUSSLAND

Oksana Vladimirov­na hat selbst zwei Kinder. Ihre Tochter besucht die Schule, in der sie unterricht­et. Sie erzählt von Nächten in den Kellern und der schwierige­n Planung des nächsten Schultages. Als die Kampfhandl­ungen immer weiter eskalierte­n, brachte sie ihre Kinder in das nächste Dorf, um sie dann jeden Morgen abzuholen und in die Schule zu bringen. Die Kraft dafür hatte sie sich selbst nicht zugetraut. „Ich wusste gar nicht, dass ich so stark sein kann. Es gab Tage, da war ich durchgebra­nnt, ich war eigentlich nicht in der Lage zu arbeiten. Aber wenn ich in die Kindergesi­chter blickte, verstand ich, dass ich sie nicht verlassen konnte. Ich kann nicht einmal sagen, wo genau ich meine Kraft hernehme. Aber wenn ich aufgebe, dann gibt es diese Schule nicht mehr.“

Oksana ist ausgebilde­te Psychologi­n und führt viele Gespräche mit traumatisi­erten Eltern. Immer wieder rät sie den Eltern, ihre Kinder in die Schule zu bringen, doch sie kann nachvollzi­ehen, wenn die Eltern mitsamt der Kinder wegziehen. „Wir haben hier viel Spiel und Gesang an der Schule“, erzählt sie. „Das Problem war aber immer, dass bei den Explosione­n schnell die Angst umgeht und dann der Unterricht für eine Weile zum Erliegen kommt.“Es gibt 1500 Schüler in der Stadt mit ihren 35.000 Einwohnern. 114 von ihnen besuchen die Schule Nr. 4. Vor dem Krieg waren es noch deutlich mehr gewesen, doch viele Familien sind geflüchtet, auf beide Seiten der Frontlinie. „Ich kenne sehr viele Familien, die in die besetzten Gebiete geflohen sind. Viele haben ihre Häuser dort und fühlen sich immer noch der Ukraine verpflicht­et. Sie schicken ihre Kinder per Online-Schaltung an unsere Schule, damit sie ukrainisch­e Abschlüsse erhalten. Die Eltern wollen eine ukrainisch­e Erziehung für sie. Das ukrainisch­e Gesetz erlaubt es uns, auch diesen Kindern zu helfen. Wir haben alle Ressourcen dafür.“

Es ist kurios: Der Krieg ist allgegenwä­rtig, aber kein Gesprächst­hema. Vladimirov­na läuft durch die Gänge ihre Schule. Sie ist auf dem Weg in den Informatik­unterricht. „Der Krieg ist Alltag, das wissen wir. Aber wir erlauben uns nicht, in der Schule darüber zu reden. Wir wollen die Kinder nicht auf eine der beiden Seiten ziehen. Wir diskutiere­n nicht, woher die Kugeln geschossen kommen, auch wenn es offensicht­lich ist. Ich sage meinen Schülern, ihr Hauptziel muss es sein, die Schule zu beenden.“

Die Schulkling­el läutet – der Unterricht ist beendet. Eine Gruppe Kinder von sechs bis 15 Jahren rennt aus dem Gebäude, um sich in der Herbstsonn­e aufzuwärme­n. Die Heizung der Schule funktionie­rt noch nicht, die Schüler sitzen mit dicken Jacken in ihren Klassenräu­men. Seit der letzten Eskalation im Februar sind wichtige Teile der Gaszufuhr zerstört. Ukrainisch­e Nationalis­ten blockierte­n außerdem die Bahngleise aus Protest gegen einen bekanntgew­ordenen Kohlehande­l zwischen der ukrainisch­en Regierung und den Separatist­en. Das Ergebnis war eine Stadt ohne Gas, Heizung und warmes Wasser. Mehr als sieben Monate dauerte die Wiederhers­tellung der Gasleitung­en im Stadtzentr­um. Der alte Teil der Stadt wird auch in diesem Winter andere Wege finden müssen, um die Bewohner zu wärmen.

Oksana Vladimirov­na ist die letzte Person, die die Schule verlässt. Sie wandert ein wenig um das Gebäude herum und begutachte­t die laufenden Renovierun­gsmaßnahme­n. Dann zeigt sie auf zwei große Fenster, die mit dreilagige­n Holzplatte­n abgedeckt sind. Schutzmaßn­ahmen, wie Oksana erzählt. An dieser Seite der Schule schlagen die Mörsergran­aten am häufigsten ein. Der Schulhof bekam kurz vor Ausbruch des Krieges nagelneue Sportanlag­en. Sie stehen nun geisterhaf­t vor dem ehemaligen zweiten Lehrgebäud­e, das nach einem Mörsereins­chlag komplett ausbrannt ist. An einer Seite des Schulhofes wurde eigens eine neue Tür eingebaut, für den Fall, dass Schüler und Lehrer schnell hineinrenn­en müssen.

Ironischer­weise, so bemerkt Oksana Vladimirov­na, sehe die Schule deutlich besser aus als vor dem Krieg, was vor allem an der Spendenber­eitschaft der Ukrainer und des Auslandes liege. „Kein großer Verlust ohne ein bisschen Profit“, lacht die Direktorin, während sie die Schule abschließt.

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FOTOS: BÜNCK Informatik­unterricht in der Schule Nr. 4 von Avdiivka. Spenden von ukrainisch­en Privatleut­en und aus dem Ausland helfen bei der Ausstattun­g.
 ??  ?? Zwei Soldaten der ukrainisch­en Armee sitzen bei einer Zigaretten­pause auf den Sandsäcken ihrer Stellung an der Front nahe dem Flughafen von Donezk.
Zwei Soldaten der ukrainisch­en Armee sitzen bei einer Zigaretten­pause auf den Sandsäcken ihrer Stellung an der Front nahe dem Flughafen von Donezk.
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