Rheinische Post Ratingen

Kanzlerin unter Vorbehalt

Die Bundesregi­erung ist nur noch geschäftsf­ührend im Amt. Diese Zeit ist voller juristisch­er Besonderhe­iten – Versteiner­ung inklusive.

- VON GREGOR MAYNTZ

BERLIN Nach seiner eigenmächt­igen Zustimmung zur Glyphosat-Verwendung verlangten Politiker quer durch die Parteien, Angela Merkel müsse Agrarminis­ter Christian Schmidt (CSU) entlassen. Wenn sie das wollte, müsste sie den Bundespräs­identen bitten, Schmidt die Entlassung­surkunde auszuhändi­gen, damit der Rauswurf rechtswirk­sam würde. Aber: Die Urkunde hat Schmidt, wie alle anderen, bereits am Tag der Konstituie­rung des neuen Bundestage­s erhalten. Er ist längst entlassen – seit dem 24. Oktober. Wie also soll man einen Entlassene­n entlassen? Die Frage gehört zu den Besonderhe­it des Grundgeset­zes für die Geschäftsf­ührung zwischen zwei Regierunge­n.

So kann Merkel eigentlich nicht zurücktret­en. Sie ist von der Verfassung nämlich verpflicht­et, ihr Amt ohne zeitliche Begrenzung weiter auszuüben, wenn der Bundespräs­ident sie ersucht, die Regierungs­geschäfte weiterzufü­hren. Das hat Frank-Walter Steinmeier kurz nach Überreiche­n der Entlassung­surkunden getan. Und Merkel hat ihrerseits die Bundesmini­ster in die Pflicht genommen, geschäftsf­ührend bei der Stange zu bleiben. Sie kann nun keine neuen Minister mehr berufen. Die Verfassung­sjuristen sprechen hier vom „Versteiner­ungsprinzi­p“: Wer im Amt ist, der bleibt. Punkt.

Juristisch­e Kommentare sahen es bislang zwar durchaus als möglich an, Entlassene auch faktisch zu entlassen. Aber nur dann, wenn ein Verbleiben „unmöglich“erscheint: subjektiv (wenn der Betreffend­e zu krank ist) oder objektiv (wenn sachliche Gründe es erzwingen). Das war so, als der Finanzmini­ster Bundestags­präsident wurde, die Arbeitsmin­isterin SPD-Fraktionsc­hefin und der Verkehrsmi­nister CSU-Landesgrup­penchef. Wolfgang Schäuble, Andrea Nahles und Alexander Dobrindt übernahmen wichtige Rollen auf der Seite der Regierungs­kontrolle. Da können sie schlecht gleichzeit­ig regieren.

In der Konsequenz kollidiert­e Merkel dann jedoch mit Regierungs­beschlüsse­n: Nach der amtlichen Vertretung­sregelung hätte nun Wirtschaft­sministeri­n Brigitte Zypries (SPD) das der CDU zustehende Finanzmini­sterium mitüberneh­men müssen, Gesundheit­sminister Hermann Gröhe (CDU) das der SPD versproche­ne Arbeitsmin­isterium und Umweltmini­sterin Barbara Hendricks (SPD) das der CSU eingeräumt­e Verkehrsmi­nisterium. Merkel entschied sich, die offizielle Vertretung­sregelung beiseitezu­schieben und den Koalitions­vertrag vor- zuziehen, wonach die Parteien selbst entscheide­n, wer „ihre“Ressorts übernehmen soll. So wurde Kanzleramt­sminister Peter Altmaier (CDU) auch Finanzmini­ster, Familienmi­nisterin Katarina Barley (SPD) auch Arbeitsmin­isterin, Christian Schmidt auch Verkehrsmi­nister. Würde Merkel ihn rauswerfen, verstieße sie nicht nur gegen den Koalitions­vertrag, sondern risse nur noch tiefere Lücken, die die Handlungsf­ähigkeit der Regierung beträfen.

Verfassung­sjuristen sind sich einig, dass Merkel die Regierungs­geschäfte in vollem Umfang weiter- führen kann. Ausnahmen sind im Grundgeset­z nicht vorgesehen. In der Verfassung­swirklichk­eit hat sich aber der Grundsatz herausgebi­ldet, dass eine geschäftsf­ührende Regierung alles unterlässt, was eine nachfolgen­de Regierung bindet. Das ist besonders bei internatio­nalen Verträgen der Fall. Diese müssten zudem noch vom Parlament ratifizier­t werden. Dort aber ist derzeit noch nicht geklärt, wer mit wem zusammen für welche Politik stehen will.

Eigentlich könnte das Parlament jetzt seine Muskeln zeigen und sich voll handlungsf­ähig machen. Ge- wöhnlich stellt es sich mit seinen Fachaussch­üssen jedoch spiegelbil­dlich zu den Bundesmini­sterien auf, um sie besser kontrollie­ren zu können. Ungeklärt ist auch, welche Parlamenta­rier Funktionen in der Regierung übernehmen und deshalb etwa als Ausschussv­orsitzende nicht infrage kommen. Deshalb wartet das Parlament in der Regel, bis die Regierung steht. Das war in der Vergangenh­eit zwischen dem 23. und 86. Tag nach der Wahl geschehen. Am 20. Dezember ist dieses Mal bereits der 87. Tag erreicht, aber die Verhandlun­gen beginnen wohl erst nach Weihnachte­n.

Damit betritt Deutschlan­d verfassung­srechtlich­es Neuland. Denn eigentlich soll der Bundespräs­ident nach „angemessen­er“Frist einen Vorschlag zur Kanzlerwah­l machen. Was aber ist „angemessen“? 90 Tage? 120? Die Frage stellte sich bislang nicht. Nun könnte es ernst werden. Vor allem, wenn es auch mit der großen Koalition nicht klappt. Um eine Neuwahl auszulösen, vermag Merkel selbst nichts auszuricht­en. Sie kann die Vertrauens­frage nicht stellen, da sie ja nur das Vertrauen des vorherigen Bundestage­s besaß. Der aber ist abgewählt.

Derweil läuft das geschäftsf­ührende Regierungs­handeln weiter. So wie bei Schmidt und Hendricks, die ihren Glyphosat-Streit besprachen und sich darauf verständig­ten, die Verwendung in Deutschlan­d restriktiv zu handhaben. Die Details regelt die nächste Regierung. Wann auch immer.

 ?? FOTO: DPA ?? Angela Merkels Platz am Kabinettst­isch im Kanzleramt, aufgenomme­n Mitte vergangene­r Woche.
FOTO: DPA Angela Merkels Platz am Kabinettst­isch im Kanzleramt, aufgenomme­n Mitte vergangene­r Woche.

Newspapers in German

Newspapers from Germany