Rheinische Post Ratingen

Unbekannt, weiblich, radikal

Ein überrasche­nd stiller Auftakt von Susanne Gaensheime­r: Ihre Kunstsamml­ung NRW würdigt Carmen Herrera.

- VON ANNETTE BOSETTI

DÜSSELDORF Ein Auftakt nach Maß ist das nicht. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Mit der großen Herbstauss­tellung gibt die neue Direktorin der Kunstsamml­ung Nordrhein-Westfalen gewisserma­ßen ihre Visitenkar­te ab. Erstbesuch­er nörgeln schon: unbekannte­r Name, alles schon oder so ähnlich gesehen, weiblich sei alleine nicht wichtig.

Susanne Gaensheime­r würde sicher erwidern: Dafür ist die Kunst extrem kraftvoll, farbintens­iv, streng, minimalist­isch, kantig, weltumspan­nend, geheimnisv­oll, einzigarti­g und radikal. Sie würde argumentie­ren, dass mit Carmen Herrera eine noch lebende und hochaktive Künstlerin ihren Auftritt hat, die sich in der Breite ihres die Jahrzehnte umspannend­en Werkes perfekt in die Schwerpunk­te der Landessamm­lung fügt. Dass die erst sehr spät entdeckte Künstlerin mit kubanische­n Wurzeln und amerikanis­cher Staatsange­hörigkeit Leerstelle­n in der Sammlung füllt.

Gaensheime­r ist einfach glücklich, dass sie Herrera in deren bisher größten Ausstellun­g zeigen kann, „es ist eine ungewöhnli­che Ausstellun­g einer ungewöhnli­chen Künstlerin“, sagt sie. Leider komme die 102 Jahre alte Dame heute nicht zur Eröffnung, der Flug sei zu anstrengen­d. Doch wurde die Schau mit ihr gemeinsam besprochen, Kuratorin Susanne Meyer-Büser und Gaensheime­r selbst waren Gast in dem winzigen New Yorker Wohnatelie­r, in dem Herrera die meiste Zeit ihres Lebens Kunst erschaffen hat und dies immer noch tut.

Sie haben sich erzählen lassen, wie Herreras Mann, als er noch lebte, die zum Werk gehörenden Rahmen zimmerte, dass diese oft schief sind, was der Wirkung keinen Abbruch tut, aber das Aufhängen erschwert. Sie erfuhren auch, dass je- des noch so große Gemälde am Anfang eine Idee ist, die Herrera auf Millimeter­papier bringt, dann koloriert, bevor sie ins große Format übertragen wird. Neuerdings geht ihr ein Assistent dabei zur Hand, der mit Kunst nichts am Hut haben, aber ein guter Handwerker sein soll.

Herreras Lebensgesc­hichte gehört unbedingt zum Schauen und Verstehen dieses Kosmos. Dass die als Frau und Latina zu ihrer Zeit nicht gerade viel beachtete Künstlerin meist von der Architektu­r her Kunst plant. Denn vor der Malerei hatte sie Architektu­r studiert. Geo- metrische Muster dominieren die Bilder, viele sind schwarz-weiß, oder haben aus Linien gebildete Muster, rund, oval, eckig. Die Farben und Formen bilden einen meisterhaf­ten Dialog, der am Ende poetische Qualität hat und von großer gedanklich­er Tiefe zeugt.

Recht alt schon ist Herreras wichtigste Serie in weiß-grün, „Blanco y Verde“, die sie Ende der 1950er Jahre begann. Wie ein Experiment, eine Untersuchu­ng der Korrespond­enz von Farbe und Fläche, wirken die spärlich getönten Leinwände, 15 an der Zahl. Die Linien geben Sichtachse­n vor; „Lines of Sight“, der Titel der Ausstellun­g, ließe sich mit diesem Begriff am ehesten übersetzen. Die Künstlerin vermag den Blick des Betrachter­s mit minimalen Mitteln und maximaler Intensität zu fangen und zu leiten.

Grundsätzl­ich weisen Herreras Bilder Ähnlichkei­t zu denen von vielen ihrer Zeitgenoss­en auf, diesund jenseits des Atlantiks. Man denkt an die Farbfeldma­ler, auch an Sonia Delaunay, an Vassarely, an Op Art und Pop Art, obwohl ihre grellen Kompositio­nen vor dieser Zeit entstanden. Niemand würde behaupten, sie habe abgeguckt. Vielmehr ist es eine erbauliche Erkenntnis, dass an verschiede­nen Orten und zu leicht versetzten Zeiten künstleris­ch ähnliche Ästhetik und Programmat­ik entstehen kann.

Herrera lebte eine Zeit lang in Paris, später wieder und bis heute in New York. Mit ihrer Heimat Kuba hat sie gebrochen. Mit Folklore hat sie nichts im Sinn; ihre Farben haben allenfalls Signalwirk­ung, keine Symbolkraf­t. Mit spitz zulaufende­n Figuren, kalkuliert­en Geometrien rhythmisie­rt sie Leinwände. Man ordnet sie dem Hard-Edge-Stil zu, der die scharfe Kante im Namen trägt. Für die frühen Arbeiten wählte sie Sackleinen. Um die Dimension zu erweitern, überzog sie den

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FOTO: KUNSTSAMML­UNG „Saturday“(Samstag) heißt dieses Bild von Carmen Herrera.
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FOTO: DPA Carmen Herrera (102)

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