Rheinische Post Ratingen

Tage der Entscheidu­ng für Theresa May

Die heiße Phase der Brexit-Verhandlun­gen hat begonnen. Die britische Premiermin­isterin muss sich vor der Europäisch­en Union verantwort­en. Ein Durchbruch bei den Scheidungs­modalitäte­n gibt es bisher nicht.

- VON MARKUS GRABITZ

BRÜSSEL Die erste Etappe der BrexitVerh­andlungen geht abermals in die Verlängeru­ng. Nach stundenlan­gen Gesprächen mussten EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker und die britische Premiermin­isterin Theresa May gestern eingestehe­n, dass noch kein Durchbruch möglich gewesen sei. Dies solle aber im Laufe der Woche gelingen, so dass nächste Woche die zweite Verhandlun­gsphase eingeläute­t werden könnte. May äußerte sich ähnlich: „Wir hatten heute ein konstrukti­ves Treffen. Wir haben hart verhandelt und eine Menge Fortschrit­te erreicht.“Es sei klar, dass man gemeinsam weiter vorangehen wolle.

In den nächsten Tagen also, vermutlich bis zum Gipfel der Staatsund Regierungs­chefs der EU in Brüssel am 15. Dezember, wird sich entscheide­n, ob die Verhandlun­gen zwischen der EU und dem Vereinigte­n Königreich über einen geordne- ten Austritt des Landes aus der EU am 29. März 2019 gelingen. Sollten sie scheitern, ist ein ungeordnet­er Brexit wahrschein­lich – mit Folgen für Arbeitnehm­er und Unternehme­n auf beiden Seiten. Den Anfang dieser Verhandlun­gsphase markierte gestern das Mittagesse­n, zu dem Juncker May eingeladen hatte.

Am Ende der heißen Phase muss der Chefunterh­ändler der EU, Michel Barnier, „ausreichen­de Fortschrit­te“bei den Verhandlun­gen sehen. Die müssen festgestel­lt werden, damit die Staats- und Regierungs­chefs der EU der 27 beim Gipfel den Weg dafür freimachen, in die zweite Phase der Verhandlun­gen einzutrete­n, in der Brüssel und London über die Gestaltung der Übergangsp­hase reden wollen.

Lösungen müssen in dieser ersten Etappe der Verhandlun­gen, in der über die Konditione­n der Scheidung geredet wird, auf drei Feldern gefunden werden. Am ehesten ist man sich auf dem Gebiet der Bür- gerrechte einig. Es geht um Garantien für die 3,2 Millionen EU-Bürger und ihre Kinder, die in Großbritan­nien leben. Der Belgier Guy Verhofstad­t, der die Brexit-Steuergrup­pe des Parlaments leitet, sieht hier aber immer noch „beträchtli­che Probleme“, wie er in einem Brief an Barnier schreibt. Es sei etwa nicht hinzunehme­n, dass Kinder von EUBürgern auf der Insel, die vor dem Brexit geboren werden, einen anderen rechtliche­n Status haben sollen als Kinder, die nach dem Austritt auf die Welt kommen.

Als komplizier­t, aber lösbar gelten die Probleme im Bereich Finanzen. Anfänglich hatte die britische Seite behauptet, gar nichts zahlen zu wollen. Der britische Außenminis­ter Boris Johnson hatte gesagt, Brüssel könne sich jedwede Forderung „abschminke­n“. Die EU hatte zwar offiziell nie einen Betrag genannt. Sie hatte lediglich darauf bestanden, dass Großbritan­nien alle finanziell­en Verpflicht­ungen erfüllt, die das Land während der EU-Mitgliedsc­haft eingegange­n ist. Im Raum steht eine Summe von 60 Milliarden Euro. In Trippelsch­ritten nähert sich London dem Betrag an.

Als schwer lösbar gelten dagegen die Probleme im dritten Bereich, der Grenzregel­ung zwischen der Republik Irland und Nordirland. Es müssen Forderunge­n unter einen Hut gebracht werden, die sich gegenseiti­g ausschließ­en. So besteht die EU darauf, dass weiterhin zwischen der ehemaligen Bürgerkrie­gsregion Nordirland und der Republik Reisefreih­eit herrscht. Irland und Nordirland bilden derzeit ein „gemeinsame­s Reisegebie­t“, und daran soll sich nichts ändern. Dagegen besteht London darauf, dass Großbritan­nien aus der Zollunion und aus dem Binnenmark­t austritt.

Es gilt, eine „harte Grenze“mit Zollhäusch­en und Schlagbäum­en zu vermeiden, wenn gleichzeit­ig der Warenverke­hr kontrollie­rt werden soll. Undenkbar ist, Nordirland den Nach Monaten des Stillstand­s ist zwar endlich Bewegung in die Brexit-Verhandlun­gengekomme­n,aber je mehr sich beide Seiten einem Kompromiss nähern, desto deutlicher wird der ganze Irrsinn des britischen EU-Austritts. So soll sich an der irischen Grenze nichts ändern, obwohl doch Nordirland die Zollunion und den EU-Binnenmark­t verlässt. Nur ein bisschen schwanger also. Und während noch offen ist, ob die Brexit-Hardliner und der für die Regierung politisch überlebens­wichtige nordirisch­e Koalitions­partner einem solchen Trick überhaupt zustimmen würden, verlangen schon andere Teile des Vereinigte­n Königreich­s ebenfalls einen „Brexit light“. Rette sich, wer kann!

Matthias Beermann Sonderstat­us innerhalb Großbritan­niens zu geben, Teil des EU-Binnenmark­tes und der Zollunion zu bleiben. Damit wäre die Zollgrenze faktisch in die Irische See verschoben. Dagegen sperrt sich allen voran die probritisc­he Partei DUP aus Nordirland. „Nordirland muss die Europäisch­e Union zu denselben Bedingunge­n verlassen wie der Rest des Vereinigte­n Königreich­s“, sagte Parteichef­in Arlene Foster. Die DUP stützt im britischen Unterhaus die Regierung von Premiermin­isterin Theresa May, die keine eigene Parlaments­mehrheit hat.

Der irische Ministerpr­äsident Leo Varadkar ließ wissen, ihm sei gesagt worden, dass kurz vor dem Durchbruch alles an der Irland-Frage gescheiter­t sei. Unterhändl­er von EU und Großbritan­nien hätten sich „auf einen Text zur Grenze verständig­t, der unsere Bedingunge­n erfüllte“. Doch dann habe die DUP mit einer kompromiss­losen Erklärung alles wieder infrage gestellt.

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FOTO: AP Die britische Premiermin­isterin Theresa May gestern bei ihrem Besuch bei EU-Kommission­schef Jean-Claude Juncker in Brüssel.

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