Abgrund
Immerhin, die Wetterverhältnisse sollen weiterhin günstig bleiben, so dass sie morgen weitersuchen können. Allerdings . . .“„Was?“, bedrängte sie Lieke. „Erzähl schon, Anne. Was haben sie gesagt?“
„Nichts, was wir nicht schon wüssten, Lieke. Nuñez hat noch einmal darauf hingewiesen, dass die Chance, David lebend zu finden, mit jedem Tag . . .“
Lieke schlug die Hände vors Gesicht und wandte sich schluchzend ab. Lucia umarmte die fast einen Kopf größere Niederländerin, redete leise auf sie ein und führte sie dann aus dem Raum und den dunklen Flur entlang nach draußen an die frische Luft. Durch das Bürofenster verfolgten die anderen, wie sie sich mit ihr draußen auf die Bank vor dem Haus setzte.
Estraga schwieg mit gesenktem Kopf und wischte sich mit einem Papiertaschentuch den Schweiß von der Stirn. Hermann ahnte, woran der Direktor dachte. Der Fall David Bartels hielt mittlerweile die ganze Station in Atem, und in Zeiten des Internets war es nur eine Frage der Zeit, bis auch der Rest der Welt davon erfuhr. Davids missglückte Festnahme konnte sich zur Katastrophe ausweiten, jetzt, in der ohnehin schon angespannten Situation, in der sie steckten. Wer würde einer Forschungseinrichtung Geld geben, in der Pyromanen ein und aus gingen, in einem Land, dessen unfähige Polizei junge, irregeleitete Menschen in den Tod trieb? Im Netz würden sie sich die Mäuler zerreißen, taten es vielleicht jetzt schon.
Sie gingen auseinander, ohne ein Wort zu wechseln. Niemand rechnete hier noch mit einem Erfolg der Suche; solange aber noch die geringste Hoffnung bestand, würde das keiner laut aussprechen, schon gar nicht in Gegenwart von Lieke.
Dieter Grumme nickte Hermann zu und zog sich dann mit Estraga ins Büro des Direktors zurück, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Dieter war besonders erbost über die unerwartete Entwicklung, mit der sie nach ihrer Rückkehr konfrontiert worden waren. Die sensationellen Entdeckungen, die ihm, Alberto und Hermann auf ihrer außerplanmäßigen Fahrt gelungen waren, drohten angesichts des tragischen Schicksals dieses jungen Deutschen vollkommen in den Hintergrund zu geraten.
Alberto war schon wieder auf See. Nur einen Tag nach ihrer Rückkehr hatte er aufs Neue eine der engen Kabinen auf der bezogen. Diesmal absolvierte er die seit Langem geplante Tour für das staatliche Institut, in dem er arbeitete, der eigentliche Grund seines Galápagos-Besuchs. Die von ihm, Hermann und Dieter Grumme gesammelten Proben würde er erst nach seiner Rückkehr in etwa einer Woche mit aufs Festland nehmen können. Dort musste er dann die Wei-
Queen Mabel
tergabe an verschiedene Forschungseinrichtungen organisieren, die über die nötige Laborausstattung verfügten. Um ihre Theorie zu beweisen, dass hier Artgrenzen zusammenbrachen und Hybridisierungen in großem Maßstab stattfanden, brauchte man modernste Sequenzierroboter. In einem Land wie Ecuador gab es davon nicht allzu viele. Ein beträchtlicher Teil der Proben würde daher um die halbe Welt an Hermanns Labor in Kiel verschickt werden, ein anderer an befreundete Arbeitsgruppen in den USA. Da Hermann nur als Tourist eingereist war, war er nicht befugt, das Material außer Landes zu schaffen, deshalb der umständliche und zeitraubende Postweg. Heutzutage war die Ausfuhr derartigen Materials mit enormem Papierkram verbunden.
Die Analyse ihrer Proben würde also frühestens in ein paar Wochen beginnen. (Fortsetzung folgt)