Rheinische Post Ratingen

Gerupfte Parteichef­s könnten es richten

Die Groko wäre für Angela Merkel, Horst Seehofer und Martin Schulz gleicherma­ßen die Rettung. Sie werden alles geben, um eine Neuwahl zu vermeiden.

- VON KRISTINA DUNZ

BERLIN Angela Merkel macht es kurz. Die Telefonsch­altkonfere­nz mit ihrem CDU-Bundesvors­tand dauert gestern nur ein paar Minuten, dann sind die Zugeschalt­eten im Bilde. Erstens: Ihr Vor-Sondierung­sgespräch am Mittwochab­end mit den Parteispit­zen von CSU und SPD war vertrauens­voll – und vertraulic­h. Zweitens: Die Union versteht unter einer stabilen Regierung eine echte Groko und keine weiche Koko, mit der die SPD gern wechselnde Mehrheiten im Bundestag ermögliche­n würde. Und drittens: Manchmal ist weniger mehr, was so viel bedeutet wie, einfach mal die Klappe zu halten. Denn während der Jamaika-Sondierung­en hatten sich die Beteiligte­n auf sämtlichen Kanälen öffentlich mit Vorwürfen, Seitenhieb­en und Provokatio­nen überzogen. Die nächsten Verhandlun­gen sollten mit „etwas weniger Öffentlich­keitsarbei­t“geführt werden, hatte die Bundeskanz­lerin schon am Montag angemahnt.

Das dürfte sie sich auch für sich persönlich wünschen, denn erstmals in ihrer langen Partei- und Kanzlersch­aftskarrie­re ist die 63Jährige gefährlich angeschlag­en. Kommt eine Groko nicht zustande, werden sich jene Kräfte in der CDU sammeln, die ihr nach dem Wählerverl­ust bei der Bundestags­wahl den Alltag mit Debatten um ihre Nachfolge schwer gemacht haben. Bei einer Neuwahl will Merkel wieder antreten. Ihr Ruf der Krisen-Kanzlerin, die schwierigs­te Probleme durch Vertrauen und Verlässlic­hkeit, Klarheit und Kompromiss­e lösen kann, aber wäre nach gescheiter­ten Jamaika-Sondierung­en und dann ebenfalls gescheiter­ten schwarz-roten Verhandlun­gen schwer beschädigt.

Angeschlag­en sind aber auch ihre beiden Verhandlun­gspartner, CSUChef Horst Seehofer und der SPD- Vorsitzend­e Martin Schulz, die noch viel schlechter­e Wahlergebn­isse für ihre Parteien eingefahre­n hatten. Seehofer will sich morgen trotzdem erneut zum CSU-Chef wählen lassen, gibt aber sein Amt als bayerische­r Ministerpr­äsident an seinen Erzrivalen Markus Söder ab. Und Schulz hat es noch nicht geschafft, ausreichen­d Führungsst­ärke zu zeigen. Die Parteilink­e drängte ihm die Koko-Überlegung auf, die der SPD einiges Gespött eingetrage­n hat. Denn es sieht nach Rosinenpic­kerei aus, wenn eine Partei zwar regieren, aber gern auch gegen den Partner abstimmen können möchte. Vertraglic­h abgesicher­t, versteht sich.

Die drei unterschie­dlichen Politiker verbindet nun eines: Die Verhandlun­gen über eine erneute große Koalition könnten ihre Rettung werden. Oder ihr Niedergang. Denn auch für Seehofer und Schulz gilt, dass nach vielen Monaten des vergeblich­en Ringens um eine stabile Regierung für die viertgrößt­e Volkswirts­chaft der Welt bei einer Neuwahl dann auch nach neuen Gesichtern verlangt werden dürfte. Die Bildung einer großen Koalition hingegen würde allen dreien – und ihren Parteien – Zeit verschaffe­n, sich wieder zu berappeln. Merkel und Seehofer hätten dann bewiesen, dass sie als erfahrene Krisenmana­ger die Karre immer noch am besten aus dem Dreck ziehen können. Sie hätten dann auch die Chance, ihren späteren Abschied aus der Politik selbstbest­immt vorzuberei­ten. Und Schulz wäre der SPD-Vorsitzend­e, der die Partei nach einer emotionale­n Achterbahn­fahrt mit tiefen Tälern wieder in die Lage versetzt, die eigenen Herzensanl­iegen Wirklichke­it werden zu lassen, anstatt sie nur von der Warte der Opposition aus zu fordern.

So werden die drei vermutlich bis an ihre Grenzen gehen, um mit einer großen Koalition doch noch einen großen Wurf zu wagen. Sie zerbrechen sich jetzt den Kopf, wie sie zueinander­finden können. Die SPD hat elf Kernthemen vorgelegt von Europa bis Klimaschut­z. CDU und CSU haben vor allem formuliert, was sie nicht wollen: eine Bürgervers­icherung, Steuererhö­hungen, neue Schulden und eine Vergemeins­chaftung von Schulden in Europa.

Die allgemeine Aufforderu­ng, es dürfe kein „Weiter so“geben, wird aber interessan­terweise schon etwas relativier­t. In beiden Lagern heißt es jetzt, es dürfe sehr wohl weitergehe­n mit Errungensc­haften der vorigen großen Koalition, wie etwa ohne neue Schulden auszukomme­n oder die Pflege zu verbessern oder den Mindestloh­n zu stärken oder oder oder. Vor allem die SPD müsse aber die gemeinsame­n Erfolge und ihren eigenen Anteil daran besser herausstel­len, statt immer nur zu jammern und zu mecken. Das sehen auch einige Sozialdemo­kraten so. Auf beiden Seiten bestehen große Sympathien dafür, nicht jedes Detail in einem Koalitions­vertrag zu regeln. Lieber große Symbolthem­en beschreibe­n und Luft zum Atmen für die vielen Details lassen. Offen ist, welche „Idee“eine neue große Koalition verkörpern könnte, die „Erzählung“, die „Verheißung“. Dazu hat bisher noch keiner eine Idee geäußert.

Punkt drei der Vereinbaru­ng vom Mittwochab­end von Merkel, Seehofer, Schulz sowie den drei Fraktionss­pitzen Volker Kauder (CDU), Alexander Dobrindt (CSU) und Andrea Nahles (SPD) klappt aber zumindest gestern schon einmal ganz gut: Alle halten sich zurück mit der „Öffentlich­keitsarbei­t“. Schulz soll noch einmal ganz deutlich gemacht haben, wie schwer für seine Partei der Weg in eine dritte große Koalition unter Merkel werden würde. Zuerst muss heute der Parteivors­tand Ja zu Sondierung­en mit der Union sagen, dann entscheide­t ein Sonderpart­eitag im Januar über die Aufnahme von Koalitions­verhandlun­gen, und schließlic­h müsste ein ausgehande­lter Vertrag von den Parteimitg­liedern abgesegnet werden. Er brauche einfach Zeit. Die will ihm die Union geben.

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