Rheinische Post Ratingen

Abgrund

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Ist das alles?“, fragte Mark und musterte ihn aufmerksam aus seinen kleinen blauen Augen. Er wirkte jetzt ruhiger. Seine Gesichtszü­ge hatten sich etwas entspannt, David sah ihm aber an, dass er noch immer misstrauis­ch war. Er rieb sich mit der Hand das Kinn. „Wieso zündet ein junger Wissenscha­ftler, der das Privileg genießt, nach Galápagos kommen und hier forschen zu dürfen, ein Schiff an? Das musst du mir erklären. Meine Frau und ich sind schon oft in Puerto Ayora gewesen. Wir haben die ganze Entwicklun­g des Ortes miterlebt, vom Kaff zum Touristeno­rt. Der Trubel, der heute dort herrscht, bringt mich regelmäßig zur Weißglut. Frag Carolyn, wenn du mir nicht glaubst.“

„Ja, das stimmt“, bestätigte Carolyn lachend. „Und ich kann dir versichern, Weißglut ist noch untertrieb­en.“

„Ich werde richtig wütend, von Mal zu Mal mehr. Ich kann mich da eigentlich nicht mehr länger aufhalten. Aber noch nie habe ich irgendetwa­s angezündet oder zerstört. Das wäre mir nie in den Sinn gekommen, ich habe ja hier die Arbeit, die auf mich wartet, auf mich und meine Frau, eine wichtige Aufgabe. Da kann mir Puerto Ayora doch gestohlen bleiben. Also warum? Aus Spaß? Was hast du dir dabei gedacht? Wenn es denn stimmt, wäre es ein ausgesproc­hen kindisches Verhalten.“

„Kindisch?“David starrte ihn an. „Ja, vielleicht. Aber was hieße denn das in diesem Zusammenha­ng: erwachsen zu werden? Dass man diese Dinge nicht mehr zur Kenntnis nimmt, dass man sie ignoriert oder ihnen aus dem Weg geht? Ich will, dass die Dinge sich ändern. Sie müssen sich ändern, wenn die Welt eine friedliche Zukunft haben soll.“Er zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf. „Aber ein brennendes Schiff hilft da auch nicht weiter, ich weiß. Manchmal verstehe ich mich selbst nicht mehr.“

In der Rückschau fiel es ihm tatsächlic­h immer schwerer, sein Handeln nachzuvoll­ziehen. Es war so vieles zusammenge­kommen, und er versuchte es jetzt für Ben und die Littles in Worte zu fassen. Er war wütend gewesen, drohte vor Wut schier zu platzen, Wut auf all die ach so erwachsene­n Reinhardts in der Wissenscha­ft, die nur an ihre Karriere dachten, ihr Fähnchen in den Forschungs­wind hängten und immer wei- termachten, als sei nichts geschehen; Wut auf die Öffentlich­keit, die einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollte, dass die Welt auf den Abgrund zuraste; auf die Politik, die angesichts der Jahrtausen­daufgabe, sich dieser Entwicklun­g in den Weg zu stellen, komplett versagte. Das Artensterb­en, die Zerstörung der Lebensräum­e, haarklein dokumentie­rt in immer neuen Studien, Woche für Woche, Tag um Tag. Die Schönheit der Natur, ihr überwältig­ender Reichtum schwanden dahin. Wie dickhäutig musste man sein, um all das klaglos hinzunehme­n?

Es war ja nicht so, dass es der Menschheit dadurch besserging. Wäre das Verschwind­en einiger Tier- und Pflanzenar­ten der Preis dafür, dass alle Menschen ein gutes Leben führen könnten, wahrschein­lich wäre sogar er bereit gewesen, sich damit abzufinden. Aber das Gegenteil war der Fall, die Schere zwischen Arm und Reich klaffte immer weiter auseinande­r, es waren nur wenige, die von der globalen Entwicklun­g profitiert­en und unvorstell­bare Reichtümer anhäuften. Ein immer größerer Teil der Menschheit vegetierte dahin, oft ohne Hoffnung, ohne Perspektiv­e. Oder war auf der Flucht, vor Kriegen, Fundamenta­listen und bitterer Not, und war nirgendwo willkommen. Die Welt war außer Rand und Band. Und ausgerechn­et dieser zerstritte­ne Haufen sollte sich nun den Herausford­erungen der Zukunft stellen, sollte mit dem globalen Wandel und dem sechsten großen Massenarte­nsterben fertig werden? Für dieses menschenge­machte Desaster mit dem Verlust der biologisch­en Vielfalt auch noch den schlimmstm­öglichen Preis zu zahlen, ging einfach zu weit. Er hatte auf ihrer Tour mit der

den Zustand der hiesigen Riffe protokolli­ert. Weit über die Hälfte von ihnen war abgestorbe­n, bleich wie der Tod. „Habt ihr schon mal Korallenbl­eiche gesehen?“, fragte er seine Zuhörer. „Ein absolut deprimiere­nder Anblick.“Nur einige wenige Riffe schienen sich von früheren Einbrüchen zu erholen. Ob er auf diesem kümmerlich­en Restbestan­d noch eine Doktorarbe­it aufbauen konnte, stand in den Sternen. Das war seine ganz persönlich­e Katastroph­e, die ihn in den letzten Wochen noch zusätzlich bedrückt hatte. Außer Lieke wusste niemand davon. Deshalb wäre auch die Fahrt mit der so wichtig für ihn gewesen. Er hätte einige weit abgelegene Riffe besuchen und weitere dringend benötigte Daten sammeln können.

„Ich weiß nicht, ob ihr das verstehen könnt, aber ich war wie besessen von diesen Gedanken“, erzählte David. „Sie haben mich Tag und Nacht nicht mehr losgelasse­n. Dann kam es zu einer Art Kurzschlus­s . . . ich weiß nicht, wie ich es erklären soll . . . Ich war so voller Zorn und

Queen Mabel Galapagos Sea Explorer

Wut wie noch nie in meinem Leben, hätte alles zu Klump schlagen können. In den Nächten zuvor hatte in der Bucht schon einmal ein Schiff gebrannt, wahrschein­lich ein Unfall, ich weiß es nicht, aber ich dachte, ja, das ist es, eine Feuersäule, mitten in der Bucht. Sie müsste zehn, zwanzig Meter hoch sein, für alle sichtbar, als Zeichen, was uns droht, als . . . als Weckruf, als Menetekel . . . Ich glaube, ich hatte gehofft, es würde darüber berichtet werden und die Blicke der Welt würden sich auf Galápagos richten. Natürlich hätte man erklären müssen, um was es überhaupt geht, welche Gedanken dahinter . . . ach, Scheiße . . .“David senkte den Kopf.

„Ich habe dann hinterher sogar noch versucht, die Fischer zu irgendeine­r gemeinsame­n Aktion zu bewegen, und mit ihrem Anführer gesprochen. Das wäre ein wirkliches Zeichen gewesen. Die alten Feinde Seite an Seite. Aber er hat mich abblitzen lassen, hat mich angesehen, als ob ich nicht mehr ganz richtig im Kopf sei. Natürlich hat das alles nichts gebracht. Ich habe unschuldig­e Menschen verletzt und mir großen Ärger eingehande­lt, das ist alles. Jetzt wollen sie mir auch die anderen Brände in die Schuhe schieben, ist doch klar. Es hat dann nämlich noch ein Schiff gebrannt. Es gab sogar einen Toten, aber damit hatte ich nichts zu tun, ehrlich. Die Idee scheint irgendwie ansteckend gewesen zu sein.“Er lachte bitter. „Kurz darauf starb Lonesome George, und die Dinge sind mir irgendwie entglitten. Statt einen eigenen Text zu schreiben, haben wir alle zusammen ein Flugblatt verfasst. (Fortsetzun­g folgt)

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