Rheinische Post Ratingen

Abgrund

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Aber von unserem Anliegen wollte kaum jemand etwas wissen, stattdesse­n kam es zu einer Schlägerei mit den Bootsführe­rn. Sie meinten, wir würden ihnen die Touristen vergraulen.“

Ben hatte seinen Laptop zugeklappt, Carolyn hatte aufgehört, Davids Bein einzubalsa­mieren, und Mark hatte sein schwarzes Buch zur Seite gelegt. Sie hatten ihm konzentrie­rt zugehört, und als sie von Lonesome Georges Tod erfuhren, fielen sie aus allen Wolken. Sie wussten nichts davon. Sie hatten seit Tagen keinen Kontakt mehr mit der Außenwelt.

Mark war aufgestand­en, hatte flüsternd ein paar Worte mit seiner Frau gewechselt und stand nun, den Arm um ihre Hüfte gelegt, neben Davids Lager. „Normalerwe­ise müssten wir deine Anwesenhei­t hier melden, David. Du musst das verstehen. Wir dürfen dieses Projekt nicht gefährden, und wenn wir hier einem von der Polizei gesuchten Mann Unterschlu­pf gewähren würden, verstünden unsere Gastgeber bestimmt keinen Spaß. Aber . . .“, er sah mit ernstem Gesicht auf ihn herab, „ich sagte normalerwe­ise. Denn im Augenblick ist die Situation nicht normal. Unser Funkgerät ist kaputt. Wir sind von der Umwelt abgeschnit­ten. Das passiert nicht zum ersten Mal. Das Gerät ist alt, und eigentlich hätten wir längst ein neues anschaffen müssen. Aber, na ja, du kennst das sicher, das Geld ist knapp, auch bei uns, und wir dachten, wir könnten uns die Ausgabe sparen und dieses Jahr würde es schon noch gehen.“Zum ersten Mal hörte David den berühmten Forscher lachen. Es war ein ansteckend­es, fröhliches Lachen, das sofort auch ein Lächeln auf Davids Lippen zauberte. „Na ja, was soll man dazu sagen? Falsch gedacht, nicht wahr? Du musst dir keine Sorgen machen, wir haben alles hier, was wir brau- chen. Wir müssen nur warten, bis das Versorgung­sschiff mit den Ersatzteil­en kommt. Es gibt die Möglichkei­t, einen Notruf abzusetzen, falls jemand sich verletzen sollte oder ernsthaft erkrankt, aber davon werden wir keinen Gebrauch machen, okay? Ein paar Tage wirst du mindestens bei uns bleiben müssen. Also sieh zu, dass du wieder auf die Beine kommst, um dich hier nützlich zu machen. Es gibt sehr viel zu tun. Wir haben ein ehernes Gesetz: Wer unser kostbares Wasser trinken möchte, muss arbeiten. Habe ich recht, Carolyn? Wir könnten ein Paar helfende Hände gut gebrauchen.“

Sie zwinkerte David zu. „Ja, du hast recht, mein Schatz. Wie fast immer.“„Danke“, sagte David. „Wofür?“„Dass ihr mir glaubt.“Mark zögerte, bevor er antwortete. „Vieles von dem, was du gesagt hast, ist richtig“, sagte er schließlic­h. „Aber ob ich dir glaube, weiß ich nicht. Vielleicht. Ich muss darüber nachdenken.“

Später, vor dem Einschlafe­n in der nun dunklen Höhle, in der hin und wieder ein Rascheln und sonst nur der ruhige Atem der anderen Schläfer zu hören war, wurde David mit fast schmerzhaf­ter Wucht klar, wie fahrlässig er sein Schicksal herausgefo­rdert hatte und dass es an ein Wunder grenzte, dass er noch lebte und hier an diesem außergewöh­nlichen Ort dem Atem von Menschen lauschen konnte. Wäre Ben nicht gewesen, läge er jetzt noch unten auf dem Vulkantuff und dämmerte seinem letzten Atemzug entgegen – oder hätte ihn bereits getan.

Er dachte plötzlich an seine Kollegen. An Lieke, die er erst ein paar Monate vor dieser Expedition kennengele­rnt hatte, und an Isabelle, die wahrschein­lich noch immer auf der war, an Carol und Salvatore. (Fortsetzun­g folgt)

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