Rheinische Post Ratingen

Digitale Koalition statt Groko

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Die SPD ist das Sinnbild für die Orientieru­ngslosigke­it der Politik in Sachen Digitalisi­erung. Dabei gibt es eine Personalie, in der eine große Chance steckt.

Neulich hat die Deutsche Bank um die Ecke eine neue Filiale aufgemacht. Dort stehen nur noch Automaten. Beim Rewe in der Innenstadt gibt es inzwischen Kassen zum Selbstausc­hecken. Anfangs habe ich sie ignoriert – viel zu komplizier­t und zu unpersönli­ch. Doch irgendwann, als ich die lange Feierabend-Schlange vor mir sah, bin ich dann doch auf die Maschine ausgewiche­n.

Wenn ich im Bayerische­n Fernsehen moderiere, stehe ich völlig allein im Studio. Statt auf Kameraleut­e und Kabelträge­r blicke ich heute in drei Kamera-Roboter, die sich wie von Geisterhan­d bewegen. Deutschlan­d automatisi­ert sich; die Einschläge kommen näher.

Die Menschen spüren, dass sich die Arbeitswel­t verändert. Laut einer Umfrage des Branchenve­rbands Bitkom meinen drei von vier Erwerbstät­igen in Deutschlan­d, dass Digitalkom­petenz mindestens so wichtig für ihren Arbeitspla­tz sein wird wie Fachkompet­enz. Das ist bei Politik und Arbeitgebe­rn aber offenbar noch nicht angekommen.

Dort fordert man zwar gerne Digitalkom­petenz, man tut aber nichts dafür. Die SPD ist Sinnbild für die Orientieru­ngslosigke­it der sogenannte­n Entscheide­r. Auf der Überfahrt vom Industrie- ins Digitalzei­talter scheint ausgerechn­et die Arbeiterpa­rtei im visionären Bermudadre­ieck verscholle­n zu sein.

Einst, im beginnende­n Industriez­eitalter, war die SPD die Antwort auf den technologi­schen Wandel. Heute ist sie ein einziges Fragezeich­en. Wo ist ihre digitale Agenda? Wo sind die Aus- und Weiterbild­ungsangebo­te in den Betrieben? Warum werden noch immer Generation­en zielsicher am Arbeitsmar­kt der Zukunft vorbei ausgebilde­t?

Zwischen Zerriebenw­erden in der Groko und Schmollen über Jamaika könnte die SPD einen dritten Weg einschlage­n. Nicht nur die FDP kann digital. Auch die anderen Parteien haben exzellente digitale Köpfe: Thomas Jarzombek bei der CDU, Konstantin von Notz bei den Grünen, Dorothee Bär bei der CSU. Mit der Wahl von Lars Klingbeil zum Generalsek­retär hätte die SPD die Chance, neue Allianzen zu schmieden, jenseits von Mehrheiten und Parteiräso­n. Was wir bräuchten, um den Tanker Deutschlan­d endlich auf Kurs Richtung Neuland zu bringen, wäre eine digitale Koalition quer durch alle Reihen. Eine digitale Agenda, in der alles verhandelb­ar ist bis auf eines: Stillstand. Richard Gutjahr ist Moderator für das Bayerische Fernsehen und Blogger. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de

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