Der Hundertjährige Krieg seit 1917
Die Gegenwart wird bestimmt durch ein Jahrhundert kriegerischer Konflikte, die nur zeitweise eingefroren waren.
Wer sich seinen Glauben an die Menschheit erhalten will, sollte auf die Lektüre dieses Buchs besser verzichten. Mit der Präzision eines Chirurgen seziert der Historiker Gregor Schöllgen die Konflikte der Menschheit seit der bolschewistischen Revolution 1917. Und er macht viele der heutigen Auseinandersetzungen an den Konflikten in diesem Zeitraum fest. Denn das Leid und der Hass in den vielen Kriegen seit der Russischen Revolution sind noch heute präsent.
Allein in den Bürgerkriegswirren, den bewaffneten Auseinandersetzungen und Deportationen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs kamen Millionen Menschen um. Auf ein Vielfaches dieser Zahl beliefen sich die Fälle von Flucht und Vertreibung. So flohen rund zehn Millionen aus Russland, zwischen der Türkei und Griechenland gab es einen Bevölkerungstausch von fast zwei Millionen Einwohnern. Am Ende der Friedensverträge im Gefolge des Versailler Vertrags von 1919 lebten rund 25 Millionen Menschen als Minderheiten in den neu konfigurierten Staaten, alle von Misstrauen und Feindschaft umgeben, jederzeit Opfer ihrer Umgebung. „Unter dem Strich waren die Gewinner der Friedensordnung allesamt Verlierer“, resümiert Schöllgen. Denn die Letzteren sannen nur noch auf die Revision der Verträge.
Und doch war diese Zeit nur das Vorspiel der Vernichtungspolitik Hitlers, Stalins, Mussolinis und der Japaner, denen erneut Millionen zum Opfer fielen. Am schlimmsten trieb es der deutsche Diktator, der bis zu sechs Millionen Juden verga- lektive Nervosität für die Zeit von 1917 bis 1945 aus. Danach begannen die Supermächte, die Konflikte einzufrieren. Der mögliche Atomkrieg im Zusammenhang mit dem Koreakrieg ließ sie in Systemen „kollektiver Sicherheit denken“. Deren Höhepunkt sei die Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 1975 gewesen.
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist die Welt nach Schöllgen wieder unordentlicher geworden. „Sämtliche Systeme kollektiver Sicherheit haben sich überlebt“, konstatiert der Autor. Zugleich setzen Globalisierung und Flüchtlingsbewegungen den nach 1945 so erfolgreichen unteren und mittleren Schichten in den wohlhabenden Ländern zu. Das lasse für die Zukunft „nichts Gutes erwarten“. Allerdings hält Schöllgen die kollektive Vernunft der Menschheit für so stark, dass sie trotz allem obsiegen könnte, etwa weil ein „übergeordnetes gemeinsames Interesse“definiert werden kann.
Hier liegt auch die Schwäche der ansonsten brillanten Analyse des Autors. Woher nimmt er auf einmal seinen Optimismus angesichts der unvergessenen Konflikte der Vergangenheit und der neuen der Gegenwart. Vielleicht ist es einfach nur Hoffnung. Das wäre aber zu wenig. Gregor Schöllgen: Krieg. Hundert Jahre Weltgeschichte. 2017, Deutsche Verlags-Anstalt, 366 S., 24 Euro