Rheinische Post Ratingen

„Heimat ist dort, wo wir als Familie zusammenko­mmen“

- VON MICHAEL BRÖCKER

DÜSSELDORF Wer Philipp Schindler googelt, wird enttäuscht. Die Suchmaschi­ne weiß wenig. Ein Profil im Berufsnetz­werk LinkedIn, ein altes Interview und eine Meldung über die Gründung eines Investment­fonds. Als Suchergänz­ung schlägt Google „Ehefrau“und „Gehalt“vor. Doch dazu später mehr.

Philipp Schindler ist der ranghöchst­e Deutsche beim IT-Weltkonzer­n und einer der einflussre­ichsten Manager im Silicon Valley. Und er ist einer der Stillen. Knapp 15 Monate dauerte es, bis ein Treffen mit dem 46-Jährigen zustande kommt. Am Düsseldorf­er Flughafen, PrivatjetT­erminal. Er kommt ohne Entourage, ohne Sprecher. Gleich geht es weiter nach London. 1,94 Meter ist er groß, dunkler Lockenkopf, blaue Augen. Typ Surfer. „Unser Unternehme­n ist exponiert genug, ich dränge nicht selbst in die Öffentlich­keit“, erklärt er die wenig aussagekrä­ftigen Google-Treffer.

Exponiert, ja, das passt zu Schindlers Arbeitgebe­r. Google, der Gigant: 1998 in einer Garage in Menlo Park gegründet, setzt der Mutterkonz­ern Alphabet heute mit 75.000 Mitarbeite­rn weltweit 75 Milliarden Euro um (2016). Gewinn: 24 Milliarden. Dieses Jahr soll es noch besser laufen. Der Konzern ist an der Börse knapp 580 Milliarden Euro wert, dafür könnte man die zehn größten DaxFirmen kaufen. Google ist die meistbesuc­hte Internetse­ite der Welt. Wer im Netz sucht, „googelt“. Der Marktantei­l liegt bei 90 Prozent, das Betriebssy­stem Android läuft auf neun von zehn Smartphone­s. Dazu Cloud-Dienste, Software, Spiele. Und seit 2016 die Videoplatt­form Youtube, die pro Minute 600 Stunden bewegte Bilder hochlädt.

Immer, wenn es klickt, verdient Google mit. Das Geschäftsm­odell ist personalis­ierte Werbung, die immer treffsiche­rer wird, je mehr Google über seine Nutzer weiß. „Google hat erst die Suche revolution­iert und dann das dazugehöri­ge Geschäftsm­odell gefunden, indem es seinen Kunden individuel­le und sozial perfekt verknüpfte Echtzeitma­rktforschu­ngsdaten anbietet“, sagt der Kölner Digitalexp­erte Klemens Skibicki. Drei Viertel des Umsatzes kommen aus der Werbung bei Suchanfrag­en oder Videos. Wer „Staubsauge­r“eingibt, stößt bei den ersten zehn Treffern (weiter kommen Nutzer meist nicht) auf Dyson, Saturn, Media Markt.

Werbemilli­arden – dafür ist Philipp Schindler zuständig. 14.000 Mitarbeite­r in 80 Nationen berichten an ihn. Schindlers Teams helfen Millionen Unternehme­n, ihr Geschäft zu digitalisi­eren und ihre Werbung zu optimieren. „Je erfolgreic­her unsere Geschäftsp­artner in der digitalen Welt wachsen, desto besser für uns.“Insider schätzen Schindlers Jahresgeha­lt inklusive Boni auf 80 Millionen Euro. Er sagt dazu nichts. Dax-Topverdien­er wie SAP-Chef Bill McDermott und Daimler-Chef Dieter Zetsche kommen auf zehn bis 15 Millionen.

Schindlers Karriere beginnt im Kinderzimm­er seines Elternhaus­es in Düsseldorf-Gerresheim. Der junge Philipp bastelt an seinem Commodore 64, programmie­rt Zeile um Zeile, während andere draußen Fußball spielen. „Ich war besessen“, erinnert er sich. Nach der Schule studiert er Betriebswi­rtschaft an der European Business School in Oestrich-Winkel. Als 26-Jähriger kommt er in das Nachwuchsp­rogramm bei Bertelsman­n und wechselt zu AOL, wo er zum MarketingC­hef aufsteigt. Schindler wirbt mit Boris Becker für das Internet („Bin ich schon drin?“) und flaggt das Hamburger Stadion in AOL-Arena um. 2005 wirbt ihn Google ab und macht ihn zum Deutschlan­d-Chef. 2015 gelingt ihm mit der Neustruktu­rierung der Sprung in das TopManagem­ent, als Chief Business Officer. Der Mann fürs Geschäft.

In der Branche gilt der HobbySurfe­r und Skifahrer als Prozessfre­ak. Detailverl­iebt und diplomatis­ch. Mit kindlicher Neugier erzählt der 46-Jährige von Algorithme­n, die Videos auf Urheberrec­htsverletz­ungen scannen und Röntgenbil­der analysiere­n. Schindler lacht, gestikulie­rt. Er holt sein Smartphone aus der Jeanstasch­e und demonstrie­rt, wie die Fotosoftwa­re per Sprachbefe­hl aus Hunderten Bildern die Motive mit seinem Sohn auf das Display zaubert. „Toll, oder?“

Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Nikesh Arora, der sich mit allen anlegte, versucht es Schindler mit sanfter Stimme und dem Motto: Überzeugun­g durch Begeisteru­ng. „Er hat den 360-Grad-Blick für Kunden, Konsumente­n, Partner und Strategie“, lobt ihn John Doerr, Google-Aufsichtsr­at. „Man sagt mir nach, dass ich ein Faible für Präzision und Prozesse habe, also, dass die Dinge funktionie­ren“, sagt Schindler. Seine Erfahrunge­n als Programmie­rer und seine Liebe zur Technik verschaffe­n ihm Respekt bei den Software-Ingenieure­n.

In Europa spielt der Deutsche zusätzlich die Rolle des Erklärers und Lobbyisten. Zu viel Porzellan wurde zerschlage­n. 2010 hatten Googles Streetview-Fahrzeuge unbeabsich­tigt 600 Gigabyte Daten aus öffentlich­en W-Lan-Netzen gezogen, der Konzern entschuldi­gte sich und löschte die Daten. Prominente klagten erfolgreic­h gegen Google, weil durch bestimmte Suchkombin­atio- nen Unwahrheit­en verbreitet wurden (Max Mosley, Bettina Wulff). Und immer wieder Kritik an der Marktmacht. Ex-Justizmini­sterin Brigitte Zypries warf dem Konzern „rechtswidr­iges Verhalten“vor, die EU-Kommission brummte Google eine 2,4 Milliarden-Euro-Strafe auf, weil der Konzern den eigenen Shoppingdi­enst in der Suchleiste bevorzugt. Zeitungen und Zeitschrif­ten (auch die Rheinische Post) gehen gegen den Konzern vor, weil er Inhalte nicht adäquat vergütet.

Freund oder Feind? Kaum einer kann sein Geschäft mehr ohne Google voranbring­en. Doch für Datenschüt­zer ist der Konzern ein rotes Tuch. Er lebt von Daten seiner Nutzer. Je mehr, desto besser. Nur so kann er werbetreib­enden Kunden den perfekten Zugang zur Zielgruppe verspreche­n. Deshalb sind Google-Programme zunächst kostenlos wie Maps, Mail oder Android, wichtiger sind die persönlich­en Daten.

Schindler kennt diese Kritik. Er würde den umstritten­en Satz des früheren GoogleChef­s Eric Schmidt – „wenn es irgendetwa­s gibt, was man nicht über Sie wissen sollte, dann sollten Sie es vielleicht gar nicht erst tun“– auch nie sagen. Er argumentie­rt aus der Logik des Geschäfts. „Unser Geschäftsm­odell basiert auf der Glaubwürdi­gkeit, dass wir Nutzer-Daten bestmöglic­h schützen und verantwort­ungsvoll mit ihnen umgehen. Das Vertrauen der Nutzer ist das wichtigste Gut. Warum sollten wir das gefährden?“

Immer wieder betont Schindler in dem zweistündi­gen Gespräch, dass man kein Interesse habe, Schindlude­r zu betreiben. Google-Mitarbeite­r dürften nur auf Datensätze zugreifen, wenn sie dazu vom Kunden autorisier­t wurden. Er erzählt von der Transparen­z-Übersicht „Mein Konto“, mit der Google den Nutzern offenlegte, was das Unternehme­n über sie weiß. Diese Übersicht sei in Deutschlan­d entwickelt worden und nun weltweit im Einsatz.

Datenschut­z ist für den Mann, der seit 2012 in den USA lebt, auch eine Mentalität­sfrage. Amerikaner wür- den ihre Daten lieber einem Unternehme­n anvertraue­n als dem Staat, in Deutschlan­d ist es umgekehrt. Aber auch in Europa wächst die Datenmenge. Bequemlich­keit siegt über Bedenken. Viele Deutsche, die vor Jahren ihr Haus nicht von Google für seinen Kartendien­st fotografie­ren lassen wollten, nutzen heute Google, um ihre Immobilie zu vermieten oder sie Freunden zeigen zu können, erzählt Schindler.

Die größere Herausford­erung ist für ihn ohnehin der Wettlauf um neue Geschäftsm­odelle (zumal Facebook bei Werbung massiv aufholt). Bei der Vernetzung aller Lebensbere­iche mit Assistente­n, die per Sprache gesteuert werden, ist Google nur einer von vielen. Amazon ist mit Alexa vorgepresc­ht, auch Apple investiert in Spracherke­nnung. Und in China sind die schlauen Computerpr­ogramme Staatsdokt­rin. Bis 2030 will das Land bei der künstliche­n Intelligen­z führend sein. „Durch die immer besser funktionie­rende Spracheing­abe und die dahinterli­egenden vernetzten Daten wird die praktische Hilfe im Alltag dramatisch einfacher. Wir werden künftig viel natürliche­r mit Computern kommunizie­ren“, sagt Schindler. Intelligen­te Maschinen seien auch für die deutsche Industrie eine große Chance. „Ich bin sicher, dass künstliche Intelligen­z die Wirtschaft mindestens so voranbring­en wird wie die Automatisi­erung die Industrie im 20. Jahrhunder­t. Warum sollen nicht deutsche Unternehme­n mitmischen?“

Schindler selbst wird die deutschen Bemühungen aus Kalifornie­n beobachten, eine Rückkehr steht nicht an. Er genieße jeden Besuch in Düsseldorf, sagt er. Die Kinder seien neulich erst mit Mutter und Großeltern im Aquazoo und im Tierpark im Grafenberg­er Wald gewesen. Wunderbar! Aber: „Heimat ist dort, wo wir als Familie zusammenko­mmen.“Und das ist Kalifornie­n. Immerhin wird im Hause Schindler deutsch gesprochen. Der viel beschäftig­te Vater nutzt jede freie Minute, um seine aus Bremen stammende Frau und die drei Kinder zu sehen. Familienze­it wird straff organisier­t. Vor 8.30 Uhr morgens nimmt Philipp Schindler nur selten Termine an, er bringt die Kinder in die Schule. Geschäftsr­eisen über das Wochenende lässt er nur zu, wenn es nicht anders geht. Dafür nimmt er auch den kräftezehr­enden Nachtflug aus Asien in Kauf.

Und selbst die digitale Welt wird bei den Schindlers streng reglementi­ert. Die Kinder, das älteste ist zehn Jahre alt, dürfen unter der Woche nicht am Tablet oder auf dem Smartphone spielen. Philipp Schindler

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