Rheinische Post Ratingen

INFO Seine große „Eroica“spielte er 1958 ein

- VON WOLFRAM GOERTZ

Sein klingendes Vermächtni­s ähnelt einem Geistersch­iff. Von Zeit zu Zeit taucht es auf fernen Meeren auf, dann gehen Teile der Ladung verloren, schließlic­h wird es unter neuer Fahne wieder gesichtet. Hermann Scherchen war einer der bedeutends­ten Dirigenten des 20. Jahrhunder­ts. Leider nahm er für die amerikanis­che Firma Westminste­r auf, keines der großen Labels; und als Westminste­r unterging, bekam es diverse neue Besitzer und ging irgendwann in den Besitz der Deutschen Grammophon über, die aber keinerlei Lust auf Scherchen-Aufnahmen hatte. Die Zuhörersch­aft allerdings auch nicht.

Hermann Scherchen (1891–1966) war vermutlich einer der meistgehas­sten Dirigenten des 20. Jahrhunder­ts. Orchesterm­usiker, die sein Lehrbuch des Dirigieren­s von 1929 lasen, diese klirrend präzise Handlungsa­nweisung für Logik, Klang und Genauigkei­t, überkam das Frösteln. Scherchens Kälte und Majestät vereisten jeden Einwand. Erst recht in der Praxis: Wer sich Scherchen widersetzt­e, der litt. Wenn seine seltsam hohe, zirpende Stimme erklang, stöhnten die Musiker innerlich.

Für Scherchens Schallplat­tenaufnahm­en interessie­rte sich lange Zeit nur jener Typ des Enthusiast­en, den es nicht stört, dass sie jedwedem Schönheits­ideal entsagen. Dass der Lack fehlt. Dass man dem Orchester Widerstand anmerkt. Das es manchmal zum Heulen klappert. Dass Scherchen Tempi forderte, für die es keine Tradition gab. Sein Beethoven, zur reinen Energie befreit, begann Schrecken zu verbreiten. Gequält reagierte das Publikum: Gab es nichts Klangvolle­res?

Jetzt sind große Teile von Scherchens Aufnahmen wieder aufgetauch­t, und zwar zum einen als 27CD-Box beim englischen RaritätenL­abel Scribendum, zum anderen als (wieder zugänglich­e) 38-CD-Box bei der Deutschen Grammophon. Sie beweisen, dass Scherchens Rast- losigkeit sich quer durch die Zeiten fräste. Er dirigierte Bachs Orchesters­uiten und unbekannte Symphonien des Russen Reinhold Glière, Mozarts „Requiem“und Gustav Mahler, Ravels „Bolero“und Liszts dröhnende „Les Préludes“. Und jetzt sitzen wir wieder fassungslo­s vor Glück im Sessel und fragen uns: Wieso mussten wir auf diese Auferstehu­ng so lange warten?

Weil Scherchen für jede Zeit zu modern ist. Ein Leben ohne Atem, ohne Ruhe, oft ohne Mittagesse­n, am Rande der Armut – und ein Dauerkampf für die Avantgarde. Scherchen, in Berlin geboren, hatte sich nach eher provisoris­chem Unterricht auf eine Bratschens­telle bei einem Berliner Orchester hochgeübt. Als Arnold Schönberg ihn 1912 bei einer Tournee einige Male den „Pierrot lunaire“dirigieren ließ, verbannte Scherchen die Bratsche in den Koffer und entschied sich für ein neues Leben. Er ging als Chefdirige­nt nach Riga, kam in russische Gefangensc­haft und spürte den Hauch der Oktoberrev­olution. Der Sozialismu­s als Segen der Menschheit – diese Idee ließ Scherchen nicht mehr los. Vor genau 100 Jahren übersetzte er das russische Arbeiterli­ed „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ins Deutsche.

Wohin er später kam, nach Donaueschi­ngen, Frankfurt, Königsberg oder Winterthur: Scherchen fühlte sich erst wohl, wenn er eine tintenfris­che Partitur auf dem Pult liegen hatte. Bartók, Strawinsky, Berg, Varèse, Hartmann, Nono, Dallapicco­la, Stockhause­n, Xenakis und all die anderen fanden in ihm einen Getreuen, dem kein Opfer zu groß, kein Stil zu komplizier­t und keine Nacht zu kurz war. Die Statistik seiner Uraufführu­ngen füllt ein Buch.

Wie neue Musik klingt aber auch sein Beethoven, etwa im Kopfsatz von Beethovens 6. Sinfonie („Pastorale“), den Scherchen rigoros den originalen Metronoman­gaben unterwirft. In seiner schonungsl­os textnahen Deutlichke­it nahm Scherchen naturgemäß vieles von dem vorweg, was heutzutage – im Reflex auf die historisch­e Aufführung­spraxis – keinerlei Diskussion mehr auslöst. Leider fehlt in der Scribendum-Box ausgerechn­et seine bedeutends­te Beethoven-Einspielun­g: die schier elektrisch aufgeladen­e „Eroica“vom 1958 aus Wien. Revolution­ärer, brandiger, unerhörter hat man das Werk nie gehört. In der DGG-Lieferung ist sie allerdings enthalten.

Dass der bekennende, zu Lebzeiten oft angefeinde­te Sozialist eine zu Herzen gehende Wiener Einspie- lung der h-Moll-Messe zuwege brachte, mag erstaunen. Hört man sie, versinken alle Klischees von musikalisc­her Sachlichke­it, Romantisie­rung, Gläubigkei­t oder Puristerei in der Lächerlich­keit eines bloßen Paradigmen­streits. Scherchen, der Materialis­t, rafft alle Gegensätze, um sie in dialektisc­her Unruhe zu versöhnen. Die Arien ertasten Bekenntnis­haftes. Gewiss ist die Qualität der Solisten durchwachs­en, doch hat Scherchen ihnen einen bestechend deklamator­ischen Gestus anerzogen, der eher nach Brecht klingt.

Für einen eigensinni­gen (und politische­n) Störenfrie­d wie Scherchen war 1933 selbstvers­tändlich kein Platz mehr in Deutschlan­d. Das lähmte ihn keine Sekunde. Empört umkreiste er die Heimat als Gastdirige­nt. Als GMD Oswald Kabasta in Wien alle jüdischen Orchesterm­usiker auf die Straße setzte, gründete Scherchen mit ihnen sein neues Musica-Viva-Orchester. Zu jener Zeit setzte er in einem einzigen Wiener Winter unerschroc­ken alle Sin- als nach Thomanerch­or „The Art of Hermann Scherchen“als 38-CD-Box bei Deutsche Grammophon (Preis etwa 75 Euro), als 27-CD-Box bei Scribendum (Preis etwa 45 Euro). Legendärer Beethoven Scherchens einzigarti­ge „Eroica“-Aufnahme von 1958 (in Stereo-Qualität) mit dem Orchester der Wiener Staatsoper ist nur auf der DGG-Box enthalten. Man kann sie aber auch im Internet anhören, unter der Google-Suchfrage „Scherchen Eroica 1958“. fonien Gustav Mahlers aufs Programm – als flammenden Gruß der Heimatlose­n. Drei Mahler-Aufnahmen aus den fünfziger Jahren mit dem Orchester der Wiener Staatsoper bezeugen Scherchens seherische Kompetenz für ein gebrochene­s, nie gusseisern­es Mahler-Bild. Es ist im Kopfsatz der Fünften voller Grimm und bestürzend­er Gewalt, es weiß den doppelbödi­gen Jubel im Finale der Siebten mit vehementer Differenzi­erung einzufange­n. Musizieren als Säurebad.

Und kaum eine Aufnahme hat den wild-verschwöre­rischen Charakter der Zweiten besessener herausgear­beitet. Wie Scherchen die „Auferstehu­ng“wirklich aussingen lässt, als Choral des visionären Menschentr­aums – es ist eine Sternstund­e der Mahler-Interpreta­tion.

Scherchen stellte an sich ebenso hohe Anforderun­gen wie an seine Musiker, das rettete ihm jenen lebenswich­tigen Rest von Sympathie, ohne den er nirgendwo die Einladung eines Orchesters bekommen hätte. Und Scherchens Aufnahme von Mozarts Requiem ist ein Fall für die Ewigkeit. Das „Tuba mirum“hört man mit einem Kloß im Hals. Das „Rex Tremendae“zwingt einen nieder. Im „Recordare“wird man von Scherchen mit allem Trost, der Musik zu eigen sein kann, wieder aufgericht­et.

Ein eiskalter Dirigent? Doch nur ein Gerücht.

In der russischen Gefangensc­haft übersetzte er das Arbeiterli­ed „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“

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