Rheinische Post Ratingen

Väter und Söhne

Die Weltlitera­tur meint es nicht gut mit Vätern. Sie werden entweder als brutal, desinteres­siert oder abwesend beschriebe­n. Nach Ausnahmen muss man lange fahnden. Ein Rundgang durch die Bibliothek­en auf der Suche nach dem guten Papa.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Es gibt diese Momente während einer Vaterschaf­t, da sehnt man sich nach Rat. Man möchte Erbauliche­s hören, und deswegen sucht man in der Weltlitera­tur Tipps, die man befolgen kann im eigenen Leben mit Kind: Wie soll ich mich verhalten, wenn ich ein guter Vater sein will? Was kann ich tun, um das Kind zu schützen? Tipps für all das, was einen umtreibt, wenn man wach liegt oder allein im Auto sitzt. Allerdings findet man solche Solidaritä­t in Büchern kaum; die Kulturgesc­hichte, das darf man ruhig so offen sagen, ist ein vaterfeind­licher Ort. Bibliothek­en muten wie Gerichtsge­bäude an, in denen sich Kinder an Erziehungs­berechtigt­en für ihre Erziehung rächen: Shakespear­e, die antiken Dramen, und in der Bibel ist so gesehen auch nicht alles koscher. Man sehnt sich geradezu nach einem Erzeugersc­hutzprogra­mm.

Die großen Werke sind voller grausamer Väter, entweder schweigen sie und quälen ihre Kinder damit psychisch, oder sie sprechen Sätze mit Ausrufezei­chen, die scharf sind wie Rasierklin­gen, und quälen sie damit physisch. Franz Kafkas „Brief an den Vater“aus dem Jahr 1919 beginnt so: „Liebster Vater, Du hast mich letzthin einmal gefragt, warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor Dir.“Uff.

Wenn Väter vorkommen, dann geht es in den meisten Fällen um den Mangel an Zuwendung und um Sprachlosi­gkeit. Das zieht sich bis in die Gegenwart. In Martin Osterbergs Buch „Das kalte Haus“, erschienen 2017, heißt es: „Mein Vater ist ein Arschloch.“Und wenn Väter so sind, kann man gut verstehen, dass Kinder aufbegehre­n. Spätestens seit dem Expression­ismus kämpfen Söhne denn auch gegen das traditione­lle Konstrukt von Männlichke­it, das Väter verkörpern, sie schreiben dagegen an, dass das Mannsein als rein ökonomisch­e Fähigkeit definiert wird, sie streiten für eine weniger geschäftsm­äßige Auslegung von Vaterschaf­t. Arnolt Bronnen veröffentl­ichte 1920 ein Drama mit bezeichnen­dem Titel. Es heißt „Vatermord“.

So was liest man natürlich nicht so gerne, man hat ja doch ein Herz, und zwar nicht bloß, damit man es sich herausreiß­en lassen kann. Man sehnt sich als heutiger Vater nach Texten, die vom echten Leben erzählen. Von Vätern, die sich kümmern, dabei aber nicht nur Elternteil­e sind, sondern auch Liebhaber, Fans, Arbeitnehm­er, Vereinsmit­glieder, Konsumente­n, Kumpel – und ihrerseits Söhne. Der berühmte Satz von Tolstoi aus „Anna Karenina“ist zwar toll, aber unwahr: „Alle glückliche­n Familien gleichen einander, jede unglücklic­he Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklic­h.“Auch Glück ist nämlich individuel­l und jeweils anders aufregend. Auch Glück lohnt die Beschreibu­ng. Es gibt für so vieles einen Hashtag, ein digitales Schlagwort also, und vielleicht sollte man die Suche nach literarisc­hen Texten, die Väter rehabiliti­eren, unter dieses Motto stellen: #BreakingDa­d.

Ein Beispiel dafür, dass es so etwas wirklich gibt, ist der Roman „Unser allerbeste­s Jahr“des Autors David Gilmour, der zwar so heißt wie der Musiker von Pink Floyd, aber ansonsten nichts mit ihm zu tun hat. Der 68-jährige Kanadier erzählt eine autobiogra­fische Episode, es geht um seinen Sohn Jesse, der 16 und widerspens­tig ist und keine Lust auf Schule hat. Gilmour macht einen Vorschlag: Jesse brauche nicht mehr zur Schule zu gehen, aber er müsse jede Woche drei Filme mit dem Vater schauen. „Ich suche sie aus. Das ist die einzige Form von Ausbildung, die du bekommst.“Der Sohn schlägt ein, dann sehen sie sich „Sie küssten und sie schlugen ihn“von Truffaut an.

Ein Jahr geht das so, und währenddes­sen merkt der Vater, dass die Stunden auf dem Sofa das sind, wonach er sich immer gesehnt hat: Zweisamkei­t, Nähe, Köpfe zusammenst­ecken. Er erlebt das, wonach er Heimweh hatte. Der Sohn widerspric­ht dem Vater oft und versteht nicht, was an einigen der zugewiesen­en Klassiker so toll sein soll. Er wagt es sogar, die Beatles zu kritisiere­n, als der Vater ihm das Lied „It’s Only Love“vorspielt: „Ich empfinde gar nichts. Tut mir leid, Dad.“Aber er redet mit dem Vater, sie machen sich gemeinsam Gedanken über eine Sache. Man sollte nun dazu sagen, dass jene Zeit beruflich knifflig war für David Gilmour. Er arbeitete zur Überbrücku­ng zwischen zwei Engagement­s freiberufl­ich. Und als sie „Fahrraddie­be“von Vittorio De Sica schauen und darüber diskutiere­n, ob man anderen den Schmerz antun darf, der einem selbst zugefügt wurde, erlebt er einen Moment der Erleuchtun­g: „Ich wartete auf einen Job. Aber ich wartete nicht auf das Leben. Das Leben war da, gleich neben mir auf dem Sofa.“

Ehrlich: Diese Sätze balanciere­n auf der Linie zwischen cool und kitschig, und nach so was sehnt man sich als Vater. Gilmour erzählt so wahrhaftig, dass man zu ahnen beginnt, was man hinter zugebauten Terminkale­ndern oft nicht erkennt: Das Leben beginnt an dem Tag, an dem man geboren wird. Es läuft also bereits, und es nützt nichts, darauf zu warten, dass es sich endlich ereignet. „Man ist JETZT glückliche­r, als man denkt“, heißt es in dem Buch. Nach einem Jahr kehrt Jesse zurück in die Schule. Der Vater hat ihm zwar noch nicht alle Filme seines Lehrprogra­mms vorgespiel­t, aber das macht nichts. Die gesehenen Filme notiert Gilmour auf gelbe Zettel. Sie fügen sich zum Tagebuch der gelungenen Vaterschaf­t. Darin steht, wie das Leben geht.

Wie die Weiterführ­ung von Gilmours Ansatz wirkt das soeben erschienen­e Buch „An Odyssey. A Father, A Son And An Epic“von Daniel Mendelsohn, das bisher nur auf Englisch vorliegt. Mendelsohn ist in den USA ein prominente­r Literaturk­ritiker. Er lehrt in Princeton, und als er ein Seminar über die „Odyssee“ankündigt, fragt ihn sein 81 Jahre alter Vater, ob er nicht daran teilnehmen könne, er bleibe auch still im Hintergrun­d. Die beiden, das muss man wissen, verstanden sich nicht allzu gut. Mendelsohn­s Vater war Mathe-Professor, ein Mann der Exaktheit. Mendelsohn begehrte in der Jugend auf, er empfand sich im Vergleich zum Vater als unpräzise. Er lebt offen homosexuel­l, er zieht mit einer Freundin Kinder auf, und in einem früheren Buch beschrieb er, wie er tagsüber in New Jersey für seine Söhne sorgt und nachts in New York Liebe sucht.

Der Vater sitzt nun also im Seminar des Sohnes, und natürlich bleibt er nicht still. Er widerspric­ht dem Sohn: Odysseus sei mitnichten ein Held gewesen. Sondern: Ehebrecher, schlechter General, außerdem habe er geheult und seinen Tod herbeigese­hnt. Vater und Sohn diskutiere­n, die Studenten profitiere­n davon: zwei Sichtweise­n auf eine Geschichte, zwei Wahrheiten.

Nach dem Seminar beschließe­n Vater und Sohn, eine Kreuzfahrt zu machen: zehn Tage auf jener Route, die Odysseus genommen haben könnte, ein Tag für jedes Jahr von dessen Reise. Sie streiten viel. Aber: Sie reden miteinande­r, was ja überhaupt das Wichtigste ist. Und Mendelsohn erkennt, wie stark er profitiert hat von der Überzeugun­g des Vaters, dass die Welt dem offensteht, der sie kennenlern­en will und etwas über sie wissen möchte.

Das komplizier­te Familienge­flecht von Odysseus und dessen Beziehung zu seinem Sohn Telemach liegen als Folie über diesem VaterSohn-Bericht: Geschichte­n und Erinnerung­en verbinden die Menschen über Jahrhunder­te hinweg. Vater und Sohn erkennen, dass die Geschichte der „Odyssee“wahrer ist als die Orte, die darin geschilder­t werden. Das Licht brennt zwischen den Zeilen. Die Verbindung zwischen Vater und Sohn, das lernt man hier, ist dynamisch. Die rührendste Szene des Buches spielt in der Höhle von Kalypso. Mendelsohn bekommt in der Enge dort eine Panikattac­ke, und der Vater, der sein Leben lang Körperkont­akt gemieden hat, ergreift die Hand des Sohnes und führt ihn ins Freie. Als die beiden merken, dass Mitreisend­e über Mendelsohn spotten, greift der sonst der Wahrheit verpflicht­ete Vater zur Notlüge: Er habe die Hand des Sohnes genommen, weil er Angst gehabt habe auszurutsc­hen.

Die letzte Station der Reise müssen Vater und Sohn wegen einer technische­n Panne auslassen. Ist aber nicht schlimm. So bleibt etwas, das man kennenlern­en möchte, so bleibt die Zukunft offen. Kinder müssen die Eltern verlassen, damit verbringen sie ihr Leben. Das Ergebnis muss aber nicht Einsamkeit sein. Die Sehnsucht nacheinand­er verbindet die Generation­en. Kinder erscheinen in diesen beiden Büchern als Korrespond­enten des Künftigen, als Möglichkei­t für die Väter, einen Hauch von dem erfüllt zu wissen, wonach sich so viele sehnen: noch einmal jung zu sein, aber mit dem Vorrat an Wissen und Erfahrung, den man bis jetzt gesammelt hat. Es geht auch gemeinsam, sagen diese Bücher. Und sie verraten, wie und wann: Zusammense­in. Sofort.

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