Rheinische Post Ratingen

Das Haus der 20.000 Bücher

-

Schrittwei­se führte Chimen Tariq Ali in seine Sammlung ein und holte schließlic­h Schätze wie Karl Marx’ Mitgliedsa­usweis der Ersten Internatio­nale hervor – der 1864 in London gegründete­n Organisati­on, die Gewerkscha­ften und linke politische Parteien der ganzen Welt zusammenbr­ingen und systematis­ch die Revolution der Arbeiterkl­asse vorantreib­en wollte – sowie Ausgaben des

mit Marx’ und Engels’ handschrif­tlichen Anmerkunge­n. Alis Augen wurden immer größer. „O du meine Güte, ooooo du meine Güte, Chimen“, stieß er ein ums andere Mal hervor. Er war völlig überwältig­t von den historisch­en Reliquien, die da vor ihm lagen, von der Nähe zu den außerorden­tlichen historisch­en Ereignisse­n, die Chimen ihn nachempfin­den ließ. „O du meine Güte!“

„Marx’ politische Äußerungen sind nachhaltig­er als seine Leistun-

munistisch­en Manifests Kom-

gen in der Ökonomie. Deshalb habe ich mein Interesse an Marx nicht verloren. Seine Interpreta­tion von Geschichte ist brillant. Schon bevor das Wort ,Globalisie­rung’ existierte, hatte er begriffen, dass das kapitalist­ische System immer weiter wachsen wird und nicht an Individuen gebunden ist. Diesen Umstand hob er schon im

hervor“, teilte mein Großvater Tariq Ali während der Dreharbeit­en mit. Für einen kurzen Moment blitzte in seinen müden, wässrigen Greisenaug­en wieder ein Funke auf, während er seinem staunenden Gesprächsp­artner liebevoll ein Buch nach dem anderen aus seiner Sammlung präsentier­te. Sogar jetzt, Jahrzehnte, nachdem Chimen aus der Kommunisti­schen Partei ausgetrete­n war, sah er in Marx sein intellektu­elles Idol. „Er hat mir dafür die Augen geöffnet, wie man Geschichte verstehen kann.“In jenen Minuten wurde die Zeit zurückgedr­eht, und Chimen war nicht mehr

schen Manifest Kommunisti-

von der Parkinson-Krankheit gelähmt. Er wurde wieder zu dem vitalen Mann, der mit mir zum Friedhof von Highgate hinaufspaz­ierte, wo Marx begraben ist. In jenen Minuten war der Sender für den Hausnotruf um seinen Hals eher eine leise Mahnung an die Sterblichk­eit im Allgemeine­n als ein unverzicht­barer Bestandtei­l seiner Garderobe. „Sein geschliffe­ner Stil war brillant, ganz gleich ob er nun auf Englisch, Deutsch oder Französisc­h schrieb. Dadurch zog er mich in seinen Bann.“Chimen lächelte schief und ließ einen abgebroche­nen Zahn sehen, schlurfte zu einem Regal hinüber und griff nach einer Ausgabe des das 1886 von Anarchiste­n herausgege­ben worden war. Er lachte, als er Ali Passagen zeigte, welche die selbst ernannten unerbittli­chen Freiheitsk­ämpfer zensiert hatten, weil sie ihnen nicht genehm waren.

Das Haus der Bücher, in dem meine Großeltern wohnten, sowie das

Kommunisti­schen Manifests,

Leben, das sie führten, und die Menschen, die ihren riesigen Bekanntenk­reis ausmachten, zogen mich über die Generation­sgrenzen hinweg in ihre Welt. Als Folge der Zusammenkü­nfte, an denen ich im Hillway teilnahm, sollten mir die Gespenster der Geschichte mein ganzes Leben hindurch über die Schulter blicken.

Von Kindertage­n an hat Chimen mir beigebrach­t, die Welt um mich herum zu deuten und mithilfe von Ideen Muster im Chaos zu erkennen. Er half mir zu begreifen, dass wir größtentei­ls von unserer Vergangenh­eit – sowohl von unserer individuel­len als auch von unserer kollektive­n Geschichte – geprägt werden.

Newspapers in German

Newspapers from Germany