Mit kleinen kreativen Ritualen kann man den Abschluss einer Tätigkeit gestalten
Bananen, Frischkäse und ein Sixpack Bier gehören zu der jungen Frau mit Kopfhörern; Salami, Biomilch und Pesto zu dem älteren Herrn mit Aktentasche. Wer an der Supermarktkasse mal nicht auf sein Handy schaut, hat viel Zeit. Um die Einkäufe der Umstehenden genau zu studieren. Die Miteinkäufer anzuschauen. Zu denken, dass das Süßigkeitenregal an der Kasse dringend aufgefüllt werden müsste.
Normalerweise würde mir all das nicht auffallen, weil ich mein Handy in der Hand hätte und etwas im In- ternet nachsehen, eine WhatsappNachricht lesen oder das passende Lied auswählen würde. Aber ich übe an diesem Morgen Achtsamkeit (ein Wort mit echtem Imageproblem, weil es nach Esoterik klingt) und „Monotasking“– mich auf eine Sache zu konzentrieren.
Justus Ludwig würde begeistert in die Hände klatschen, wüsste er von diesem Feierabendexperiment, schließlich stammt die Übung von ihm. Ludwig hat rund 20 Jahre als Manager in einem internationalen Konzern gearbeitet, heute coacht der 45-Jährige Unternehmen in Sachen Achtsamkeit.
Wenn der Düsseldorfer in Firmen unterwegs ist und dort den ganz großen Skeptikern begegnet, die denken, sie müssten sich bitte jetzt im Lotussitz auf ihren Schreibtisch setzen, dann hilft er ihnen auf die Sprünge und erzählt ihnen von der Schneekugel. Schüttelt man die Ku- gel, wird der Kunstschnee darin aufgewirbelt, alles geht durcheinander, das Motiv in der Schneekugel ist schwer zu erkennen. Bis sich der Schnee wieder legt.
Mit unserem Geist, das erzählt Ludwig den Skeptikern dann, ist es ähnlich: Wer sich ein bisschen Zeit nimmt und sich fokussiert – auf das Atmen zum Beispiel oder darauf, wie sich der Körper anfühlt in genau diesem Moment – bringt Ruhe in seinen Kopf und den Geist. Beim Essen nicht am Handy herumzuspielen oder zu lesen, nicht mit schweren Gedanken unter die Dusche zu gehen, zum Einschlafen keine Musik zu hören – eins nach dem anderen halt. Das wäre ein – zugegeben: nicht einfacher – erster Schritt hin zu mehr Achtsamkeit.
Neben dem Monotasking hat Ludwig noch andere Tipps parat: Innehalten Bewusst mehrmals täglich ein „Stopp-Zeichen“im Alltag setzen, um bewusst für zwei bis drei Minuten innezuhalten. Wer will, schließt dabei die Augen, um sich besser auf den Atem zu konzentrieren, tief ein- und auszuatmen und zu spüren, wie die Luft in seinen Körper fließt und wieder hinausströmt. Übergänge bewusst gestalten Ein Beispiel: Den Feierabend zu beginnen heißt, bewusst mit dem Arbeiten aufzuhören. Ludwig rät dazu, kleine, kreative Rituale zu entwickeln, um den Abschluss einer Tätigkeit oder den Beginn einer Aufgabe achtsam wahrzunehmen. Dankbarkeit üben Einmal am Tag – vielleicht zum Abschluss des Tages – könnte man sich einen Moment für eine Dankbarkeits-Einheit nehmen. Die Frage dazu lautet: Für welche Begebenheit, Situation oder Men- schen ist man heute aus welchem Grund dankbar?
Ludwig ist vor 15 Jahren zur Achtsamkeit gekommen, weil er krank wurde. Er musste sein Leben ändern, wollte entschleunigen (noch so ein Wort mit Imageproblem), fing an, sich mit Meditation, Qi Gong und anderen Entspannungstechniken zu beschäftigen, besuchte Schweigekurse und verbrachte Wochenenden im Kloster. Und merkte: Über das viele Arbeiten, das ewige Dauerrödeln, über den Wunsch, erfolgreich zu sein und dabei maximal erfüllt zu leben, hatte er sich vergessen. Ludwig wollte sich selbst besser kennen lernen. Wieder spüren, wie es ihm wirklich geht, was er wirklich will.
Dabei landete er bei der Methode mit dem sperrigen Namen „Mindfulness-Based Stress Reduction“. Was auf Deutsch „achtsamkeitsbasierte Stressreduktion“heißt, hat Molekularbiologe Jon Kabat-Zinn in den späten 70ern in den USA entwickelt. Die Idee: durch Lenkung von Aufmerksamkeit Stress besser zu bewältigen.
Ziel dieser ganzen Übungen, Ziel des Prinzips Achtsamkeit grundsätzlich, ist es, Dinge, Gefühle, Gedanken, Körperreaktionen bewusster wahrzunehmen. Eben achtsam zu sein für das, was bei einem selbst so los ist – denn Achtsamkeit hat ihren Fokus im Innern. Für viele Menschen sei aber genau das schwer auszuhalten, weil wir nicht auf Innehalten trainiert seien, sondern auf Dauerbeschallung, sagt Justus Ludwig.
Und: „Unsere Gesellschaft honoriert es, wenn wir viel machen.“Ruhe steht nicht besonders hoch im Kurs in einer Welt, die auf Leistung und Funktionieren, auf Dauererreichbarkeit und Mussgenuss getrimmt ist. Wer montags ins Büro kommt und auf die Frage, was er am Wochenende unternommen hat, drei Wochen in Folge „Nichts“antwortet, dürfte von den Kollegen schon unter „Sonderling“abgespeichert sein.
„Die Leute haben doch heute immer irgendwie Zirkus“, sagt Ludwig. Immer ist etwas los. Es gibt, so Ludwigs Beobachtung, wahnsinnig viele Menschen, die nicht nichts tun können. Die nicht mit sich allein sein können. Denen ihr Kopf dann zu laut würde und denen die Gefühle zu unangenehm wären. Anstatt sich aufs Sofa zu setzen und einmal bewusst nichts zu machen, strei-
Man sollte nicht bewerten, sondern nur gucken und registrieren, was da passiert
chen sie lieber die Wand oder stauben das Regal ab oder joggen um den Block.
Die Achtsamkeitslehre propagiert aber genau das: zu üben, nichts zu übertünchen mit einem Geräusch oder einer Tätigkeit, sondern einfach mal in dem Moment zu sein. Nicht zu bewerten, was man empfindet oder denkt oder fühlt, sondern nur hinzuschauen. Dass „einfach mal in dem Moment sein“ein wahnwitziger Euphemismus ist, weiß Justus Ludwig. „Oft sind wir gedanklich im Gestern oder im Morgen unterwegs. Wir grübeln darüber nach, wie es zu dem Streit mit dem Partner kommen konnte, oder wir sorgen uns wegen des neuen Jobs, den wir in ein paar Wochen anfangen“, sagt er.
Auch wenn es schrecklich ausgelutscht klingt: Im Jetzt zu sein ist verdammt schwer. An der Supermarktkasse kann man es ziemlich gut üben.