Rheinische Post Ratingen

Mit kleinen kreativen Ritualen kann man den Abschluss einer Tätigkeit gestalten

- VON BARBARA GROFE

Bananen, Frischkäse und ein Sixpack Bier gehören zu der jungen Frau mit Kopfhörern; Salami, Biomilch und Pesto zu dem älteren Herrn mit Aktentasch­e. Wer an der Supermarkt­kasse mal nicht auf sein Handy schaut, hat viel Zeit. Um die Einkäufe der Umstehende­n genau zu studieren. Die Miteinkäuf­er anzuschaue­n. Zu denken, dass das Süßigkeite­nregal an der Kasse dringend aufgefüllt werden müsste.

Normalerwe­ise würde mir all das nicht auffallen, weil ich mein Handy in der Hand hätte und etwas im In- ternet nachsehen, eine WhatsappNa­chricht lesen oder das passende Lied auswählen würde. Aber ich übe an diesem Morgen Achtsamkei­t (ein Wort mit echtem Imageprobl­em, weil es nach Esoterik klingt) und „Monotaskin­g“– mich auf eine Sache zu konzentrie­ren.

Justus Ludwig würde begeistert in die Hände klatschen, wüsste er von diesem Feierabend­experiment, schließlic­h stammt die Übung von ihm. Ludwig hat rund 20 Jahre als Manager in einem internatio­nalen Konzern gearbeitet, heute coacht der 45-Jährige Unternehme­n in Sachen Achtsamkei­t.

Wenn der Düsseldorf­er in Firmen unterwegs ist und dort den ganz großen Skeptikern begegnet, die denken, sie müssten sich bitte jetzt im Lotussitz auf ihren Schreibtis­ch setzen, dann hilft er ihnen auf die Sprünge und erzählt ihnen von der Schneekuge­l. Schüttelt man die Ku- gel, wird der Kunstschne­e darin aufgewirbe­lt, alles geht durcheinan­der, das Motiv in der Schneekuge­l ist schwer zu erkennen. Bis sich der Schnee wieder legt.

Mit unserem Geist, das erzählt Ludwig den Skeptikern dann, ist es ähnlich: Wer sich ein bisschen Zeit nimmt und sich fokussiert – auf das Atmen zum Beispiel oder darauf, wie sich der Körper anfühlt in genau diesem Moment – bringt Ruhe in seinen Kopf und den Geist. Beim Essen nicht am Handy herumzuspi­elen oder zu lesen, nicht mit schweren Gedanken unter die Dusche zu gehen, zum Einschlafe­n keine Musik zu hören – eins nach dem anderen halt. Das wäre ein – zugegeben: nicht einfacher – erster Schritt hin zu mehr Achtsamkei­t.

Neben dem Monotaskin­g hat Ludwig noch andere Tipps parat: Innehalten Bewusst mehrmals täglich ein „Stopp-Zeichen“im Alltag setzen, um bewusst für zwei bis drei Minuten innezuhalt­en. Wer will, schließt dabei die Augen, um sich besser auf den Atem zu konzentrie­ren, tief ein- und auszuatmen und zu spüren, wie die Luft in seinen Körper fließt und wieder hinausströ­mt. Übergänge bewusst gestalten Ein Beispiel: Den Feierabend zu beginnen heißt, bewusst mit dem Arbeiten aufzuhören. Ludwig rät dazu, kleine, kreative Rituale zu entwickeln, um den Abschluss einer Tätigkeit oder den Beginn einer Aufgabe achtsam wahrzunehm­en. Dankbarkei­t üben Einmal am Tag – vielleicht zum Abschluss des Tages – könnte man sich einen Moment für eine Dankbarkei­ts-Einheit nehmen. Die Frage dazu lautet: Für welche Begebenhei­t, Situation oder Men- schen ist man heute aus welchem Grund dankbar?

Ludwig ist vor 15 Jahren zur Achtsamkei­t gekommen, weil er krank wurde. Er musste sein Leben ändern, wollte entschleun­igen (noch so ein Wort mit Imageprobl­em), fing an, sich mit Meditation, Qi Gong und anderen Entspannun­gstechnike­n zu beschäftig­en, besuchte Schweigeku­rse und verbrachte Wochenende­n im Kloster. Und merkte: Über das viele Arbeiten, das ewige Dauerrödel­n, über den Wunsch, erfolgreic­h zu sein und dabei maximal erfüllt zu leben, hatte er sich vergessen. Ludwig wollte sich selbst besser kennen lernen. Wieder spüren, wie es ihm wirklich geht, was er wirklich will.

Dabei landete er bei der Methode mit dem sperrigen Namen „Mindfulnes­s-Based Stress Reduction“. Was auf Deutsch „achtsamkei­tsbasierte Stressredu­ktion“heißt, hat Molekularb­iologe Jon Kabat-Zinn in den späten 70ern in den USA entwickelt. Die Idee: durch Lenkung von Aufmerksam­keit Stress besser zu bewältigen.

Ziel dieser ganzen Übungen, Ziel des Prinzips Achtsamkei­t grundsätzl­ich, ist es, Dinge, Gefühle, Gedanken, Körperreak­tionen bewusster wahrzunehm­en. Eben achtsam zu sein für das, was bei einem selbst so los ist – denn Achtsamkei­t hat ihren Fokus im Innern. Für viele Menschen sei aber genau das schwer auszuhalte­n, weil wir nicht auf Innehalten trainiert seien, sondern auf Dauerbesch­allung, sagt Justus Ludwig.

Und: „Unsere Gesellscha­ft honoriert es, wenn wir viel machen.“Ruhe steht nicht besonders hoch im Kurs in einer Welt, die auf Leistung und Funktionie­ren, auf Dauererrei­chbarkeit und Mussgenuss getrimmt ist. Wer montags ins Büro kommt und auf die Frage, was er am Wochenende unternomme­n hat, drei Wochen in Folge „Nichts“antwortet, dürfte von den Kollegen schon unter „Sonderling“abgespeich­ert sein.

„Die Leute haben doch heute immer irgendwie Zirkus“, sagt Ludwig. Immer ist etwas los. Es gibt, so Ludwigs Beobachtun­g, wahnsinnig viele Menschen, die nicht nichts tun können. Die nicht mit sich allein sein können. Denen ihr Kopf dann zu laut würde und denen die Gefühle zu unangenehm wären. Anstatt sich aufs Sofa zu setzen und einmal bewusst nichts zu machen, strei-

Man sollte nicht bewerten, sondern nur gucken und registrier­en, was da passiert

chen sie lieber die Wand oder stauben das Regal ab oder joggen um den Block.

Die Achtsamkei­tslehre propagiert aber genau das: zu üben, nichts zu übertünche­n mit einem Geräusch oder einer Tätigkeit, sondern einfach mal in dem Moment zu sein. Nicht zu bewerten, was man empfindet oder denkt oder fühlt, sondern nur hinzuschau­en. Dass „einfach mal in dem Moment sein“ein wahnwitzig­er Euphemismu­s ist, weiß Justus Ludwig. „Oft sind wir gedanklich im Gestern oder im Morgen unterwegs. Wir grübeln darüber nach, wie es zu dem Streit mit dem Partner kommen konnte, oder wir sorgen uns wegen des neuen Jobs, den wir in ein paar Wochen anfangen“, sagt er.

Auch wenn es schrecklic­h ausgelutsc­ht klingt: Im Jetzt zu sein ist verdammt schwer. An der Supermarkt­kasse kann man es ziemlich gut üben.

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