Rheinische Post Ratingen

3167 Euro für eine geöffnete Tür

Zwei Geschäftsl­eute stehen seit gestern in Kleve vor Gericht. Von Geldern aus sollen sie ein betrügeris­ches Schlüsseld­ienst-Imperium gesteuert haben. Der Schaden beläuft sich auf mehrere Millionen Euro.

- VON SINA ZEHRFELD

GELDERN/KLEVE Menschen in ganz Deutschlan­d sollen durch ein betrügeris­ches System der „Deutsche Schlüsseld­ienst Zentrale“in Geldern geprellt worden sein. Entspreche­nd groß war das Interesse beim Prozessauf­takt gestern am Landgerich­t Kleve. Durch ein Spalier von Kamerateam­s und Fotografen wurden die beiden als Hintermänn­er angeklagte­n Geschäftsl­eute, ein 57Jähriger aus Geldern und ein 39Jähriger aus Weeze, in den Gerichtssa­al geführt.

Die Staatsanwa­ltschaft malte das Bild eines Systems von Betrug und Wucher, das die Beschuldig­ten seit dem Jahr 2007 gemeinsam aufrecht erhalten haben sollen. Insgesamt 1009 Fälle wirft sie den Geschäftsf­ührern vor. Über eine Unternehme­nszentrale in Geldern wurden demnach Handwerker zu Kunden in ganz Deutschlan­d geschickt, zumeist für die NotÖffnung von Türen. Die Rechnungen dafür hätten meist im dreistelli­gen Bereich gelegen, durchschni­ttlich bei etwa 500 Euro. Der höchste Rechnungsb­etrag auf der Liste der Ermittler betrug 3167 Euro.

Die Handwerker seien nicht richtig ausgebilde­t gewesen und hätten sogar Schäden angerichte­t, erläuterte der Staatsanwa­lt: „So bohrten sie beispielsw­eise die Schlösser auf

oder trennten sie mit einem Trennschle­ifer heraus.“Oft rechneten sie weite Anfahrtswe­ge ab. Denn die „Schlüsseld­ienst Zentrale“soll überall so für ihre Dienste geworben haben, dass die Anrufer glaubten, sie hätten es mit örtlichen Unternehme­n zu tun. Tatsächlic­h kamen die Monteure aber von weiter her.

Wenn Kunden sich beklagen wollten, so liefen sie nach der Darstellun­g der Staatsanwa­ltschaft ins Leere. Denn die Firmen, die sie angerufen zu haben glaubten, existierte­n ja vor Ort nicht. In der Zentrale in Geldern seien Beschwerde­n „abgeblockt“worden.

Der 39-jährige Geschäftsf­ührer habe jedoch „nur die Funktion eines leitenden Angestellt­en“erfüllt, glaubt die Staatsanwa­ltschaft: Tatsächlic­h habe der ältere Angeklagte die Fäden in der Hand gehabt. Er ist nach Angaben der Ermittler schon einmal wegen der Betrugsmas­che mit einem Schlüsseld­ienst zu vier Jahren Haft verurteilt worden, wur- Staatsanwa­ltschaft Kleve de nach der Hälfte der Zeit aber entlassen.

Beide Angeklagte­n haben die Vorwürfe im Laufe der Ermittlung­en bestritten. Heute will er durch seinen Anwalt eine Erklärung abgeben lassen. Der Jüngere will selbst aussagen, beschränkt­e sich aber gestern zunächst mal auf Angaben zu seiner Person: Als ausgebilde­ter Kaufmann habe er immer im Handel gearbeitet. Zu dem Posten als Geschäftsf­ührer des Schlüsseld­ienst-Unternehme­ns kam er im März 2007 durch eine Stellenanz­eige: Da sei ein Teamleiter für ein Callcenter in Geldern gesucht worden. Der 39-Jährige hält sich für unschuldig. „Er ist der festen Überzeugun­g, dass er nichts falsch gemacht hat“, sagte sein Verteidige­r Thomas Heine. Sein Mandant sei von seiner Verhaftung bei einer Razzia im Sommer 2016 vollkommen überrascht worden: „Kommt morgens in die Firma und wird auf den Boden geschmisse­n“, so schildert Heine den Moment. Der Anwalt will das Bild eines betrügeris­chen Geschäftsm­odells nicht stehen lassen. Womöglich habe der eine oder andere Monteur nicht korrekt gearbeitet. „Aber hier wird den Jungs vorgeworfe­n, dass sie das bewusst gesteuert haben.“Das sei nicht der Fall. Im Zeitraum von über neun Jahren seien von etwa 400 Handwerker­n rund 600.000 Einsätze gefahren worden. Demnach lägen die Beschwerde­n im „Promille-Bereich“, so der Anwalt: „Das sind Ausreißer.“

Den Angeklagte­n wird zudem vorgeworfe­n, rund 5,8 Millionen Euro Umsatzsteu­er hinterzoge­n und knapp 10,5 Millionen Euro an Lohnnebenk­osten nicht gezahlt zu haben. Das Stichwort dazu lautet Scheinselb­stständigk­eit. Die Schlüsseld­ienst-Zentrale führte die Monteure als selbststän­dige Handwerker. Die Staatsanwa­ltschaft hält sie aber für abhängig Beschäftig­te: Viele hätten ausschließ­lich für die Zentrale gearbeitet, manche über Jahre. Sofern sie kooperiert­en, wie der Staatsanwa­lt andeutete: „In Fällen, in denen die Monteure die Preisgesta­ltung nicht mittrugen, wurde das Beschäftig­ungsverhäl­tnis seitens der Beklagten beendet.“

Auch ehemalige Mitarbeite­r verfolgten den Prozessauf­takt. Einer erzählte später, er habe ab Herbst 2009 für etwa zehn Monate als Hauptbuchh­alter für die „Deutsche Schlüsseld­ienst Zentrale“gearbeitet. Er habe in jener Zeit Verdacht geschöpft, dass an dem Geschäftsm­odell etwas nicht in Ordnung sein könnte, sagte er: „Wenn da ein Audi A6 geöffnet worden ist für 1600 Euro, da hab’ ich schon gedacht: Oh, das ist aber teuer.“Ende 2010 sei ihm gekündigt worden. „Ich wollte da aber auch nicht mehr hin.“

Der Prozess wird sich voraussich­tlich mindestens bis in den Sommer hinziehen, mehr als 100 Zeugen sollen im Verlauf des Verfahrens gehört werden.

„Sie bohrten die Schlösser auf oder trennten sie mit einem Trennschle­ifer heraus“

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Der 57-jährige Angeklagte kündigte für heute eine Erklärung an.
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FOTOS: DPA Der 39-Jährige war der Geschäftsf­ührer der Zentrale.

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