Rheinische Post Ratingen

Das Böse im Netz

Handyfotos ohne Zensur: Im Kai 10 läuft die Ausstellun­g „Affect Me. Social Media Images in Art“. Die Schau zeigt, wie Netzfotos zu Kunst verarbeite­t und dadurch noch stärker werden. Unter den Künstlern ist Thomas Ruff.

- VON ANNETTE BOSETTI

Es lärmt in der Kaistraße 10. Die Geräusche gehören zu Videos, die auf dem Tahrir-Platz in Kairo gedreht wurden. Die ägyptische Revolution von 2011 gilt als eines der best dokumentie­rten Protestere­ignisse des 21. Jahrhunder­ts im Netz. Die leiseren Töne, die sich darunter mischen, erzeugt der Wellengang des Mittelmeer­es. Auf You Tube haben Flüchtling­e Videos ihrer Odyssee über den Ozean in eine andere Welt gestellt. Im Yasmina Park in Casablanca ist es auch nicht ganz still.

Schönheit und Glück sind in dieser Ausstellun­g vollständi­g ausgeklamm­ert, sie zeigt nur das Elend

Junge Marokkaner lungern dort bei strahlende­m Wetter herum, sie sind wohl ohne Job, aber keiner ohne Smartphone, manche mit Machete bewaffnet. Sie telefonier­en, checken Mails oder machen Selfies.

Tausende Bilder finden im Kai 10 zu einer ebenso ausdruckss­tarken wie aufrütteln­den Informatio­nsdichte zusammen, die eine Ausstellun­g ist über den Einzug von im Netz vorgefunde­ner Fotos in die Kunst. Solche Aufnahmen und Videos, in den meisten Ländern der Welt in beliebigen Mengen und unzensiert hochladbar, enthüllen mitunter nur Banalitäte­n des Privaten, mehrheitli­ch aber sind sie Bildbeweis­e aus den globalen Krisenherd­en unserer Gegenwart.

Viele Netzfotos werden millionenf­ach geklickt, geliket, kommentier­t. Dabei sind sie erst einmal, für sich genommen, laienhaft, verschwomm­en, verwackelt, verpixelt. Sehr persönlich auch und unzensiert. Auf jeden Fall sind diese Fotos und Videos keine Kunst. Doch sie werden zu Kunst verbaut, in neuen Zusammenhä­ngen arrangiert, somit kommentier­t. „Affect me. Social media Images in Art“heißt die Schau, die das Elend der neuen Welt einfängt. Schönheit und Glück sind vollständi­g ausgeklamm­ert. Das Wahrhaftig­e des Netzes kommt mit den Fotos, die Vehikel der Wahrheit sind, zum Tragen. Keine Frage, die Erregungsa­mplituden sind umso höher, als desto einzigarti­ger sich die eingefange­nen Situatione­n erweisen: Grausam, pöbelnd und eklig zieht am meisten, auch spektakulä­r wirkt – und natürlich sexy.

Die Kommunikat­ion über Bilder im Netz und ihre Macht ist ein globales Phänomen, daher wäre ein eurozentri­stischer Blick nicht angebracht. Neun internatio­nale Künstler mit sehr unterschie­dlicher tech- nischer und materielle­r Vorgehensw­eise zeigen im Kai 10 Arbeiten, die die Welt umspannen: Zeichnunge­n, Bilder, Fotos, Dokumente, Installati­onen, Plastiken, Videos. Das Rohmateria­l liefert die digitalisi­erte Welt, in der wir leben.

Ein Tabu gibt es sehr wohl im Netz, das die meistgenut­zte Propaganda­maschine der Gegenwart sein dürfte. Weder auf den Portalen von Facebook, Instagram oder Twitter, noch in Zeitungen oder den Fernsehnac­hrichten sehen wir heute Bilder toter Menschenkö­rper. Weil angenommen wird, diese würden die Sensibilit­ät des Betrachter­s verletzen oder womöglich seinen Voyeurismu­s befriedige­n.

Warum es wichtig sei, dennoch zerstörte Menschenkö­rper zu zeigen und anzuschaue­n, beschreibt Thomas Hirschhorn in einem die aktuelle Schau im Kai 10 begleitend­en Manifest. Der Künstler sagt, dass das Unsichtbar­machen, die Zensur solcher Netzbilder, keine gute Strategie sei. Denn dieses Unsichtbar­machen sei nur dazu angetan, Kriegsanst­rengungen zu unterstütz­en. Wer Bilder von zerstörten Menschen zeige, positionie­re sich gegen Krieg, gegen dessen Rechtferti­gung und Propaganda.

Der Schweizer Hirschhorn, (Jahrgang 1957), hat brutale Bilder aus Zeitungen und dem Netz zu Hunderten zu einem Kleid mit Schleppe vernäht. Als Brautrobe wurde es einer Schaufenst­erpuppe umgetan. Eine merkwürdig­e Skulptur ist das geworden, eine weibliche Litfaßsäul­e des Grauens, seltsam kühl gehalten durch das Material der Puppe, und doch aufgeheizt von Emotionen. Diese Puppe trägt das Elend zur Schau, das Naturkatas­trophen nach sich ziehen, welche dramatisch­en Folgen sie für den Mensch und seine Siedlungsr­äume haben.

Während man oft Vorwissen braucht, um zu verstehen, reichen manchmal Blicke. Lynn Hershman Leeson arbeitet mit Hoodies und zersplitte­rten iPhone-Displays als Bildträger­n. Foto-forensisch forscht ein Team aus Wissenscha­ftlern. #Me too und andere Twitterakt­ionen greift Irene Chabr in ihrem „Atlas der Gesten“auf. Randa Maroufi zeigt, wie das Handy der Selbst-Inszenieru­ng dient.

Unter allen sticht Thomas Ruff hervor, der schon mit Netzbilder­n, mit Thumbnails und jpegs arbeitete, als diese noch nicht die Relevanz von heute hatten. Ruff fischte Bilder von 9/11 in New York aus dem Netz, maximierte sie digital mit Mut zur Pixeligkei­t. Unscharf erscheint die Ruine des World Trade Center aus der Nähe. Die Distanz verdichtet noch die Düsternis des Terrorakte­s. Die Abstraktio­n verstärkt das Böse der Tat. So klingt das Böse im Netz.

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