Das Haus der 20.000 Bücher
Sie hatten eine Vorahnung der Katastrophe, sie suchten nach einer Philosophie, mit der sie das Unheil analysieren und überwinden konnten – und viele von ihnen fanden das, was sie benötigten, im Marxismus.“
Nach seinem Parteibeitritt wurde aus Chimen rasch ein engagiertes Mitglied. In den Kriegsjahren und dem anschließenden Jahrzehnt war er eine der führenden Persönlichkeiten des National Jewish Committee der Partei und so umtriebig – vielleicht, fürchte ich, auch so fanatisch –, wie Parteiführer es so an sich haben. In seinem Beitrag zu
verglich Arthur Koestler seine eigene anfängliche Begeisterung für den Marxismus mit einer religiösen Bekehrung. „Vom Standpunkt des Psychologen aus gesehen“, schrieb er, „besteht kaum ein Unterschied zwischen einem revolutionären und einem traditionsgebundenen Glauben. Jeder echte Glaube ist kompromisslos, radikal und lauter . . . Alle Utopien werden aus den Quellen der Mythologie gespeist, und die Entwürfe des Gesellschaftsplaners sind lediglich revidierte Neuauflagen der alten Texte.“So war es auch bei Chimen. Er wandte sich der marxistischen Orthodoxie mit messianischer Leidenschaft zu. Im Januar 1947 verfasste er eine Rezension zu Koestlers Buch Darin ging es um jüdische Terrorgruppen wie die Stern-Bande, die eine Serie der Gewalt in Palästina ausgelöst hatten. Seiner klugen Kritik an Koestlers Befürwortung der brutal vorgehenden Organisationen stellt er eine vor Jargon strotzende Verurteilung von Koestlers politischer Hal-
Gott, der keiner war Diebe in der Nacht. Ein
tung voran. Dieser, befand er unter dem lächerlich fadenscheinigen Pseudonym „A. Chimen“, sei ein „ehemaliger Revisionist, einst ein Weggenosse der Kommunistischen Partei, [der] nun in den Schoß des Revisionismus zurückgekehrt ist“.
Doch Chimen erging es wie so vielen Angehörigen seiner Generation: Das politische Konzept des Alles oder Nichts hatte auch in seinem Fall letztlich keinen Bestand. Das Wort geprägt von Thomas More, leitet sich vom griechischen
(„nirgendwo“) ab. Anfang der fünfziger Jahre, vor dem Hintergrund der gegen jüdische Intellektuelle gerichteten Stalinschen Säuberungen und einer Vielzahl von antisemitischen Schauprozessen und Kampagnen in sämtlichen Ländern des Warschauer Paktes, gewann Chimen mehr und mehr den Eindruck, tatsächlich im Nirgendwo zu verharren. Das größte Aufsehen erregten die sogenannte Ärzteverschwörung in Moskau, bei der man neun prominenten Medizinern, überwiegend Juden, vorwarf, Spitzenfunktionäre der Kommunistischen Partei vergiftet oder dies zumindest geplant zu haben, sowie der Prozess gegen bekannte jüdische Kommunisten in Prag, die des „Trotzkismus-Titoismus“angeklagt wurden – ein praktischer Sammelbegriff für Anschuldigungen aller Art. Nachdem man die jüdischen Ärzte kurz nach Stalins Tod freigelassen und ihre Geständnisse für ungültig erklärt hatte – sie waren so lange gefoltert worden, bis sie Verbrechen zugaben, die sie nicht begangen hatten –, konnten Kommunisten im Westen schwerlich bestreiten, dass sich der Antisemitismus in Stalins Sowjetunion voll entfaltet hatte. Chimens Unbehagen
utopia, ou-topos
wuchs. Und dennoch blieb er Mitglied der Partei.
1956, als die neue Führung der UdSSR in rascher Abfolge eine lange Liste von Stalins Gräueltaten veröffentlichte und dann ihrerseits den Frevel beging, Streitkräfte zur Unterdrückung des antisowjetischen Volksaufstands nach Ungarn zu entsenden, traten Mimi und ihre Schwestern aus der Partei aus. Chimen erhielt seine Mitgliedschaft unerklärlicherweise noch weitere zwei Jahre aufrecht. Für den Rest seines Lebens haderte mein Großvater mit seiner mangelnden Urteilskraft, die ihn bewogen hatte, einem entsetzlichen, blutrünstigen System so lange die Treue zu halten.
Warum Chimen damals in der Partei blieb, vermag ich nicht zu erklären – und er konnte dies möglicherweise auch nicht. Aber da er kein Freund von Halbheiten war, trat er, als er es endlich tat, mit allem Nachdruck aus, und in den folgenden Jahrzehnten bezogen Mimi und er eine zunehmend kritische Position gegenüber der linken Politik. Chimen, der lange der einflussreichen Historikergruppe innerhalb der britischen Kommunistischen Partei angehört hatte, lag nun mit Freunden wie Eric Hobsbawm im Streit, weil diese weiterhin am Kommunismus festhielten. Mit der Zeit wandelte er sich in einen ernst zu nehmenden liberalen Denker. Chimen verbündete sich nun mit Kalter-Kriegs-Liberalen wie Jacob Fleischer, seinem engen Freund aus den Jahren an der Hebräischen Universität (er änderte seinen Familiennamen später in Talmon), obwohl Chimen dessen Weltanschauung auf dem Höhepunkt seiner eigenen Begeisterung für den Stalinismus verachtet hatte.
Von seinen mittleren Jahren an entwickelte sich Chimen zu einem Intellektuellen. Er legte die Ereignisse lieber aus, statt sich aktiv an ihnen zu beteiligen. In seinen kleinen Taschenkalendern fand sich nun, anstelle von Terminen der Kommunistischen Partei, der tägliche Kleinkram des Familienlebens: 26 Pfund und ein paar Zerquetschte für Lebensmittel, Getränke und Kleidung für Yashas (wie Chimen und Mimi meinen Vater liebevoll nannten) Bar-Mizwa; Erinnerungen daran, Versicherungsbeiträge zu zahlen; Vermerke, wann die Schultrimester begannen. Doch im Gegensatz zu vielen anderen, die sich vom Kommunismus abgewendet hatten, zog sich Chimen nie ganz aus dem öffentlichen Leben zurück. Stattdessen verlagerte er seine Interessen und vertiefte sich in dem Maße in die Wissenschaft wie zuvor in das Verfassen von Pamphleten, die vor Losungen nur so strotzten; er bekannte sich zu liberalen Werten und den Rechten des Individuums, statt seine Hoffnung wie früher auf den Klassenkampf zu setzen.
Sein Wissen war grenzenlos. Chimen verfügte über Kenntnisse, von denen andere Gelehrte nie etwas gehört hatten. Und er wusste genau, wann es an der Zeit war, seine intellektuellen Schätze zu enthüllen, und wann es sich empfahl, sein Licht unter den Scheffel zu stellen und anderen das Rampenlicht zu überlassen. Noch mit über neunzig Jahren besaß Chimen ein fotografisches Gedächtnis, ein erstaunlich breites Wissen und eine Hingabe an die Welt der Ideen, die an die Besucher der großen Salons vergangener Jahrhunderte erinnerte. (Fortsetzung folgt)