Rheinische Post Ratingen

„Wir hatten die irrwitzigs­ten Ideen“

Er war Teil der Studentenp­roteste von 68 und ging den Weg durch die Institutio­nen bis ins EU-Parlament. Ein Mythos ist die Zeit für ihn nicht.

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DÜSSELDORF 1945 als Kind jüdischer Eltern geboren, wuchs Daniel Cohn-Bendit in Frankreich und Deutschlan­d auf, wurde 1968 Sprecher der Studentenp­roteste in Paris – und aus dem Land gewiesen. In Deutschlan­d wurde er Teil der Frankfurte­r Sponti-Szene und Wegbereite­r der Grünen, 1994 Mitglied des Europäisch­en Parlaments. Äußerungen zur kindlichen Sexualität aus den 1970er Jahren sorgten 2001 für Aufsehen. 2014 zog er sich aus der aktiven Politik zurück, beteiligt sich aber weiter an gesellscha­ftlichen Debatten.

Wenn Sie das Schlagwort 1968 hören – an welches Bild denken Sie?

COHN-BENDIT Das kann ich kurz und bündig sagen: Vergessen Sie 68! Wir haben eine andere Welt, dieses Zurückblic­ken ergibt keinen Sinn. ‘68 hat bereits angelegte gesellscha­ftliche Prozesse beschleuni­gt. 50 Jahre später sind wir mit anderen Problemen konfrontie­rt. War ’ne tolle Zeit für die, die sie erlebt haben. Aber jetzt ist gut!

Der Blick zurück, auch wenn er durch ein banales Jubiläum angeregt wird, ist doch lehrreich – etwa, um Unterschie­de zu erkennen.

COHN-BENDIT Was sehen Sie denn für Unterschie­de?

Ihre Generation hat 1968 gegen die Institutio­nen gekämpft, heute fürchten die Leute eher die Machtlosig­keit der Institutio­nen.

COHN-BENDIT Ja, kann man so formuliere­n. 68 reagierte auf die Nachkriegs­zeit und wollte nicht, dass es so weiterging­e, wie die Elterngene­ration sich das vorstellte. Aber diese Nachkriegs­generation ist heute selbst alt. Jetzt gibt es eine neue Generation, die auch wieder Dinge anders will.

Aber zu Ihrer Zeit war der Politisier­ungsgrad doch ein anderer ...

COHN-BENDIT Nein, nein, nein! Junge Leute wollen auch heute viele Dinge anders machen. Sie haben nur andere Vorstellun­gen von Politik, Menschenre­chten, Arbeit, Erfolg. Deswegen sollten wir 68er keine Ratschläge geben. Ein Beispiel: 68 wurde erbittert über die Notstandsg­esetze gestritten. Die einen glaubten aufgrund der deutschen Geschichte, dass Demokratie Notstandsg­esetzte braucht, die anderen sahen darin ebenfalls aufgrund der deutschen Geschichte­n das Ende der Demokratie. Was wissen wir heute? Beides ist Unsinn gewesen.

Die Notstandsg­esetzte wurden verabschie­det.

COHN-BENDIT Und sind seitdem nicht ein Mal angewandt worden.

Vielleicht war die Debatte darüber, ob und wann der Staat alle Macht an sich reißen darf, trotzdem wichtig.

COHN-BENDIT Danach kam Willy Brandt mit seiner Parole „mehr Demokratie wagen“und hat doch den Radikalene­rlass verabschie­det, der Berufsverb­ote vorsah – Demokratie erlebt Aufs und Abs, so ist das nun mal. Darum regt es mich auf, wenn ein Politiker wie Alexander Dobrindt, der 68 noch in kurzen Hosen steckte, verkündet, er wolle das Erbe von 68 eliminiere­n. Dann denke ich mir: Hör auf, Junge, geh lieber joggen!

Gerade die Abwehr, die ‘68 bis heute auslöst, belegt doch, wie lebendig das Erbe noch ist.

COHN-BENDIT Nein, was da lebendig ist, ist eine Fata Morgana. Ich hab’ keine Lust, mich mit den Dummheiten eines Dobrindts über 68 auseinande­rzusetzen, lieber beschäftig­e ich mich mit seinen Dummheiten von heute.

Okay, gehen wir in die Gegenwart: mehr Demokratie wagen, hat Brandt gesagt. Sie sagen: mehr Europa wagen. Warum?

COHN-BENDIT Wir leben in einer Zeit, in der wir nationale Sicherheit, nationale Freiheitsw­erte nicht mehr national vertreten können. Wir brauchen mehr Europa. Es ist doch traurig, dass ein erfahrener Europapoli­tiker wie Martin Schulz es nicht gewagt hat, mit Europa in den Bundestags­wahlkampf zu gehen. Macron hat in Frankreich vorgemacht, dass man mit klaren Positionen zur Zukunft der EU durchaus Wahlen gewinnen kann.

Ist es nicht bezeichnen­d, dass sich unsere Rollen verkehrt haben: Sie als Vertreter der 68er-Bewegung reden die Bedeutung dieser Zeit klein, während ich als Vertreteri­n einer Generation, die sich von vielen Entwicklun­gen der Moderne überforder­t fühlt, nach den Lehren suche?

COHN-BENDIT Ich habe 49 Jahre über 68 geredet. Demnächst kommt das 100-jährige Jubiläum, und ich werde immer noch krächzen, wie wichtig das alles war.

Sie wollen kein Veteran werden?

COHN-BENDIT Ich bin einer.

Ja, denn geblieben von 68 sind auf jeden Fall „die 68er“. Und die haben nun keine Lust, mit uns über früher zu reden. Ist das Angst vor Sentimenta­lität oder jene Streitlust, die Ihre Generation ausmacht?

COHN-BENDIT Ich weiß nicht, was meine Generation ausmacht. Das weiß niemand. Ich kann nur für mich sprechen. Es war eine wunderbare Zeit. Wir haben die besten und irrwitzigs­ten Ideen gehabt. Wir hatten Lust an der Emanzipati­on. Wir haben manchmal dumme Sachen geschriebe­n oder gedacht. Wir haben ganz tolle Sachen geschriebe­n oder gedacht. Wir haben mehr empfunden, als wir wirklich formuliere­n konnten. Und dann ging das Leben weiter, weiter und weiter. Dann wurde Joschka Fischer Außenminis­ter...

... und Sie wurden Europapoli­tiker ...

COHN-BENDIT ... das Europäisch­e Projekt wurde besetzt, jetzt sind wir Großeltern und gucken uns auf unseren Handys Fotos von unseren Enkelinnen und Enkeln an. Wenn Sie mich also nach dem Bild in meinem Kopf von 68 fragen, sage ich: war paradiesis­ch!

Es gibt aber ein Bild aus dieser Zeit, das andere Menschen von Ihnen im Kopf haben: Da stehen Sie vor der Sorbonne dicht vor einem Polizisten und lachen. Das bleibt doch.

COHN-BENDIT Ja, das Foto bleibt. Aber man muss es nicht jedes Jahr neu deuten.

Jede Zeit deutet das Foto anders?

COHN-BENDIT zeigt.

Nämlich?

Nein, es zeigt, was es COHN-BENDIT Eine ironische Herausford­erung der Macht. Das ist die Sonne der 60er Jahre. Andere Bilder zeigen die Dunkelheit jener Zeit.

Von dieser Dunkelheit fühlten Sie sich nie angezogen. Was hat Sie geschützt, in Gewalt abzudrifte­n?

COHN-BENDIT Wahrschein­lich die Geschichte meiner Eltern. Die mussten sich in Frankreich während des Krieges verstecken. Vielleicht war mir deswegen immer bewusst, dass eine ideologisc­he Radikalisi­erung, die sich nicht mehr unter Kontrolle hat, zu den schlimmste­n Auswirkung­en führen kann, die wir in der Geschichte gesehen haben. Die Angst davor hat mich geschützt. DAS INTERVIEW FÜHRTE DOROTHEE KRINGS

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FOTO: JACQUES HAILLOT/ GETTY „Eine ironische Herausford­erung der Macht“: Daniel Cohn-Bendit vor einem Polizisten während der Studentenp­roteste 1968 in Paris.

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