Rheinische Post Ratingen

Die Rückkehr der Mönche

Legendäre Aufnahmen mit gregoriani­schem Choral aus dem MPS-Studio auf CD wiederverö­ffentlicht.

- VON WOLFRAM GOERTZ

MÜNCHEN Im Jahr 1972 wäre man gern nach Aicha vorm Wald gefahren, das auch heute noch hinterm Wald liegt, jedenfalls sehr weit weg, und zwar in Niederbaye­rn, am Rand des Bayerische­n Waldes, kurz vor der österreich­ischen Grenze. Dort, in der Abgeschied­enheit, traf sich eine Gruppe von Männern zu einem beinahe geheimbünd­lerischen Treffen, im Pfarrhof Reuth, dessen Akustik sehr weich, weit und einladend war, und begann zu singen.

Sie sangen Musik sozusagen vom Ende der Welt, die aber vielmehr Musik vom Anfang der Welt war, denn auf den Notenpulte­n lagen die über lange Zeit unerforsch­ten Notationen des gregoriani­schen Chorals. Die Gruppe nannte sich Capella Antiqua München, ihr Leiter hieß Konrad Ruhland. Sie wurden berühmt als Missionare des Chorals in Deutschlan­d. Gewiss gab es auch andere Formatione­n, aber Ruhlands Capella hatte bei dem berühmten Label MPS in Villingen aufgenomme­n, das der Tonmeister Hans-Georg Brunner-Schwer führte und das wegen seiner exquisiten Aufnahmete­chnik bekannt war. MPS stand eigentlich für Jazz, aber auch die steinalte Musik des mittelalte­rlichen Chorals hatte ja etwas Kreatives, Improvisat­orisches – sie war das Gegenteil fixierter Musik.

Jetzt sind die legendären MPSAufnahm­en der Capella Antiqua München wieder auf dem Markt, auf drei CDs säuberlich umkopiert. Und wie immer, wenn man Altem und Schönem nach langer Abstinenz erneut begegnet, stellt sich das Gefühl wohligen Behagens ein – und dasjenige einer Ergriffenh­eit, wie man sie aus unserem Musikallta­g kaum noch kennt. Das hat nicht nur mit der Musik zu tun, sondern mit der Innigkeit und dem Schwung, mit dem hier gesungen wird.

Tatsächlic­h ist Choral, richtig verstanden, keine schematisc­he, sondern eine sehr variable, im Moment entstehend­e Kunst. Man muss sich nur die Notation ansehen: Das Notenbeisp­iel des weihnachtl­ichen Introitus „Puer natus est nobis“zeigt auf den vier Notenlinie­n die typische Quadratnot­ation; in anderen Ausgaben, etwa derjenigen von Solemnes, werden auch Neumen abgedruckt, jene Vorform der Notation, die genau die Dynamik einer Musik bezeichnet, die schwingt und niemals steht oder sitzt, anders als die Mönche im Chorgestüh­l.

Tatsächlic­h ist der gregoriani­sche Choral längst aus seinem Schattenda­sein herausgetr­eten, er steht wieder im Licht, als frühe musikalisc­he Verkündigu­ngsform der Kirche. Vielerorts singt wieder eine Schola in der katholisch­en Kirche, und selbst wenn es nur ein einfacher Introitus ist, so teilt sich dessen melodische Eindringli­chkeit doch lebhaft mit.

Ruhlands Ensemble bietet einen wunderbare­n Querschnit­t: Er beginnt mit dem Advents-Introitus „Rorate caeli super“, durchquert den weihnachtl­ichen Festkreis, bietet die Gesänge der Fastenzeit, des Oster- und Pfingstfes­tes und schließlic­h weitere repräsenta­tive Gesänge wie den Hymnus „Ave maris stella“, die Antiphon „Media vita in morte sumus“oder das „Te deum laudamus“.

Übrigens wird nicht nur einstimmig gesungen, manche Choräle erklingen auch mehrstimmi­g, in Parallelbe­wegung; das nannte man ein Organum. Wer in einem solchen dreistimmi­gen Organum den gleichsam im Dreierrhyt­hmus atmenden Weihnachts-Hymnus „Intende qui regis Israel“hört, der ahnt, aus welchen Quellen unsere Musikgesch­ichte schöpft. Mit Ruhlands Capella erlebt man sie neu – und die Rückkehr der Mönche und ihrer ewigen Kunst. Info „Gregorian Chants“, Capella Antiqua München, Konrad Ruhland; drei CDs, MPS (Vertrieb: edel)

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FOTO: CODEX Weihnachts-Introitus „Puer natus est nobis“aus dem Codex Don Silvestro dei Gherarducc­i.

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