Seine Musik klingt, wie solide produzierte Tanzmusik heute klingt, ein Püree aus Pop, Rap, Elektro
DÜSSELDORF Mike Singer hat momentan kaum Zeit, aber die wird ihm immerhin von einer Rolex angezeigt. Sein Manager hat sie ihm kürzlich zum 18. Geburtstag geschenkt. Singer hat auch einen Mercedes bestellt, sein erstes Auto, aber der muss noch gebaut werden. Für den Führerschein hat er fast ein Jahr gebraucht. Nicht, weil er so viele Fahrstunden benötigt hätte, sondern weil er so selten dazu kam.
Die meisten Deutschen haben noch nie von diesem Schlaks aus einer Kleinstadt bei Freiburg gehört. Doch wer weiblich und zwischen zwölf und 16 ist, für den ist Mike Singer, der wirklich so heißt, mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Superstar. Der gehört zum „Team Mike“, folgt ihm auf Instagram, wie es 1,4 Millionen tun, hat sich in sozialen Netzwerken den Nachnamen Singer gegeben, sofort sein zweites Album „Deja Vu“gekauft, das es wie seine erste Platte elf Monate zuvor auf Platz 1 der Charts geschafft hat. Singer hat so viele Fans, die ihn umarmen wollen, dass Hygiene ein Thema ist. Trifft er sie nach einem Konzert zum so genannten Meet & Greet, wird er alle 20 Minuten mit einem desinfizierenden Gel eingerieben. Für einen Sänger auf Tour ist schon eine Erkältung bedrohlich.
Kürzlich brach Singer wieder zu einer Tour auf – eine AutogrammTour – und schon beim ersten Termin in Wuppertal drängten und freuten sich seine Fans so sehr, dass sieben ins Krankenhaus gebracht wurden. Kurz darauf sagte seine Plattenfirma die komplette Tour ab.
Das ist keine neue Geschichte, die der Pop da erzählt, doch dem Pop reicht es schon, wenn eine alte Geschichte ein neues Gesicht bekommt. In diesem Fall das noch sehr zerbrechlich wirkende eines Teenagers aus Offenburg, der auf Instagram in die Linse schmachtet und Sprüche dazu setzt wie „Do u want to be my future?“. Der auf seinem aktuellen Album über das Abhängen mit Freunden, Liebeskummer und Mädchen singt, „Du bist nice, du bist nice, du bist nice“und „Diese Nacht ist jung, so jung wie du und ich.“In dem Song „Deja Vu“sagt er über Neider: „Ich schreib diese Strophen mit dem Blick auf die Champs-Élysées… du sitzt zuhaus, ich flieg über Länder.“
Die Musik klingt, wie solide produzierte Tanzmusik heute klingt, ein Püree aus Pop, Rap, Elektro. Ein großes Team schreibt die Songs, Singer gehört meist dazu, als Texter, als Musiker. In Interviews sagt er, was Popstars in dem Alter immer sagen. Dass seine Familie ihn erdet. Dass die Fans das Wichtigste sind. Dass er seinen Traum lebt. „Es gibt immer wieder Momente, wo ich denke: Das ist überüberkrass.“
Die offizielle Version seines Lebenswegs klingt wie ein Märchen, das seit Justin Bieber regelmäßig aufgeführt wird. Auf Singers Website ist zu lesen: „Damals war er 13 und lud eigene Songs und CoverVersionen im Internet hoch. Drei Jahre später hatte er einen MajorPlattendeal und lieferte den Beweis, dass man es mit Disziplin, Stimme und Authentizität von 0 auf 100 im Musikbusiness schaffen kann.“Das ist nicht falsch, es ist nur unvollständig, weil es den Eindruck erweckt, ein Teenager habe so lange Songs bei Youtube hochgeladen, bis ihn Manager und Plattenfirma entdeckten. Doch Singer hat es bis dorthin nicht im Alleingang geschafft. Es ist wichtig, diese Geschichte zu erzählen, weil Disziplin, Stimme und Authentizität eben nicht reichen.
Mike Singer erhielt früh Hilfe von einem Mann, der nicht an eine schnelle Karriere dachte, sondern in ihm ein Talent sah, das er fördern wollte. Dieser Mann heißt Vichy Ra- tey. Fragt man Singer, welche Rolle Ratey in seiner Entwicklung gespielt hat, möchte Singer sich dazu nicht äußern. Ratey hingegen möchte.
Der 55-Jährige macht Jugendarbeit mit Musik in Singers Heimatstadt. Ratey war bei den Wiener Sängerknaben, hat in den 90ern zwei Nachwuchspreise von MTV gewonnen und seit Jahrzehnten ein Studio in seinem Haus. Eines Tages steht da dieser Zwölfjährige vor ihm, und er möchte ihm etwas vorsingen. „Als er mir vorsang, habe ich gemerkt: Da ist was da“, sagt Ratey.
An diesem Tag beginnt eine dreijährige Zusammenarbeit, während der sie mehr als 20 Songs aufnehmen, eigene und Cover, in denen Mike über Liebe singt, als habe er sie bereits erlebt („Would you stay with me tonight?“), sie machen sogar eine Platte zusammen, Singers eigentliches Debütalbum. Videos nehmen sie auch auf. Mike übt schon die große Geste, die Hand zum Herz. Wohin mit den Füßen, das weiß er noch nicht so genau. Ratey schenkt ihm auch sein erstes Keyboard. 2012 schlägt er Mike vor, einen Youtube-Kanal einzurichten, so erzählt Ratey. Der Kanal ist noch keine zwei Jahre alt, da hat er eine Million Klicks gesammelt. 2013 nimmt Singer an „The Voice Kids“teil, kommt ein paar Runden weiter.
Bei einem der Videodrehs lernt Mike einen Youtuber kennen. Dessen Manager heißt Ossama el Bourno. Der Kölner hat lange in Immobilien gemacht, ist dann auf Betreuung aufstrebender Stars umgestiegen und nimmt später den 15-jährigen Mike unter Vertrag. Kurze Zeit später beenden Ratey und Singer ihre Zusammenarbeit, weil die durch den Vertrag schwierig wird und Ratey das Gefühl hat, nicht mehr der Richtige zu sein. Bald ist nur noch neues Material auf Singers Youtube-Kanal zu finden, Rateys Videos verschwinden. Auch auf Singers Instagram-Kanal gibt es heute nur noch ein Foto, das vor 2015 gepostet wurde. Die neuen Fotos und Videos in der Optik eines H&MSpots zeigen einen anderen Mike. Cool ist er, nicht tapsig. Steht hochdramatisch an Gewässern oder auf Gebäuden.
Ratey nimmt Singer die Entwicklung nicht übel. Eher klingt er wie jemand, der sich Sorgen macht, ob Singers Entwicklung die richtige ist. „Ich hoffe, er hat einen guten Plan für die Zeit danach, wenn seine Fans erwachsen geworden sind – damit es keine harte Landung wird.“