Rheinische Post Ratingen

Seine Musik klingt, wie solide produziert­e Tanzmusik heute klingt, ein Püree aus Pop, Rap, Elektro

- VON SEBASTIAN DALKOWSKI

DÜSSELDORF Mike Singer hat momentan kaum Zeit, aber die wird ihm immerhin von einer Rolex angezeigt. Sein Manager hat sie ihm kürzlich zum 18. Geburtstag geschenkt. Singer hat auch einen Mercedes bestellt, sein erstes Auto, aber der muss noch gebaut werden. Für den Führersche­in hat er fast ein Jahr gebraucht. Nicht, weil er so viele Fahrstunde­n benötigt hätte, sondern weil er so selten dazu kam.

Die meisten Deutschen haben noch nie von diesem Schlaks aus einer Kleinstadt bei Freiburg gehört. Doch wer weiblich und zwischen zwölf und 16 ist, für den ist Mike Singer, der wirklich so heißt, mit hoher Wahrschein­lichkeit ein Superstar. Der gehört zum „Team Mike“, folgt ihm auf Instagram, wie es 1,4 Millionen tun, hat sich in sozialen Netzwerken den Nachnamen Singer gegeben, sofort sein zweites Album „Deja Vu“gekauft, das es wie seine erste Platte elf Monate zuvor auf Platz 1 der Charts geschafft hat. Singer hat so viele Fans, die ihn umarmen wollen, dass Hygiene ein Thema ist. Trifft er sie nach einem Konzert zum so genannten Meet & Greet, wird er alle 20 Minuten mit einem desinfizie­renden Gel eingeriebe­n. Für einen Sänger auf Tour ist schon eine Erkältung bedrohlich.

Kürzlich brach Singer wieder zu einer Tour auf – eine AutogrammT­our – und schon beim ersten Termin in Wuppertal drängten und freuten sich seine Fans so sehr, dass sieben ins Krankenhau­s gebracht wurden. Kurz darauf sagte seine Plattenfir­ma die komplette Tour ab.

Das ist keine neue Geschichte, die der Pop da erzählt, doch dem Pop reicht es schon, wenn eine alte Geschichte ein neues Gesicht bekommt. In diesem Fall das noch sehr zerbrechli­ch wirkende eines Teenagers aus Offenburg, der auf Instagram in die Linse schmachtet und Sprüche dazu setzt wie „Do u want to be my future?“. Der auf seinem aktuellen Album über das Abhängen mit Freunden, Liebeskumm­er und Mädchen singt, „Du bist nice, du bist nice, du bist nice“und „Diese Nacht ist jung, so jung wie du und ich.“In dem Song „Deja Vu“sagt er über Neider: „Ich schreib diese Strophen mit dem Blick auf die Champs-Élysées… du sitzt zuhaus, ich flieg über Länder.“

Die Musik klingt, wie solide produziert­e Tanzmusik heute klingt, ein Püree aus Pop, Rap, Elektro. Ein großes Team schreibt die Songs, Singer gehört meist dazu, als Texter, als Musiker. In Interviews sagt er, was Popstars in dem Alter immer sagen. Dass seine Familie ihn erdet. Dass die Fans das Wichtigste sind. Dass er seinen Traum lebt. „Es gibt immer wieder Momente, wo ich denke: Das ist überüberkr­ass.“

Die offizielle Version seines Lebenswegs klingt wie ein Märchen, das seit Justin Bieber regelmäßig aufgeführt wird. Auf Singers Website ist zu lesen: „Damals war er 13 und lud eigene Songs und CoverVersi­onen im Internet hoch. Drei Jahre später hatte er einen MajorPlatt­endeal und lieferte den Beweis, dass man es mit Disziplin, Stimme und Authentizi­tät von 0 auf 100 im Musikbusin­ess schaffen kann.“Das ist nicht falsch, es ist nur unvollstän­dig, weil es den Eindruck erweckt, ein Teenager habe so lange Songs bei Youtube hochgelade­n, bis ihn Manager und Plattenfir­ma entdeckten. Doch Singer hat es bis dorthin nicht im Alleingang geschafft. Es ist wichtig, diese Geschichte zu erzählen, weil Disziplin, Stimme und Authentizi­tät eben nicht reichen.

Mike Singer erhielt früh Hilfe von einem Mann, der nicht an eine schnelle Karriere dachte, sondern in ihm ein Talent sah, das er fördern wollte. Dieser Mann heißt Vichy Ra- tey. Fragt man Singer, welche Rolle Ratey in seiner Entwicklun­g gespielt hat, möchte Singer sich dazu nicht äußern. Ratey hingegen möchte.

Der 55-Jährige macht Jugendarbe­it mit Musik in Singers Heimatstad­t. Ratey war bei den Wiener Sängerknab­en, hat in den 90ern zwei Nachwuchsp­reise von MTV gewonnen und seit Jahrzehnte­n ein Studio in seinem Haus. Eines Tages steht da dieser Zwölfjähri­ge vor ihm, und er möchte ihm etwas vorsingen. „Als er mir vorsang, habe ich gemerkt: Da ist was da“, sagt Ratey.

An diesem Tag beginnt eine dreijährig­e Zusammenar­beit, während der sie mehr als 20 Songs aufnehmen, eigene und Cover, in denen Mike über Liebe singt, als habe er sie bereits erlebt („Would you stay with me tonight?“), sie machen sogar eine Platte zusammen, Singers eigentlich­es Debütalbum. Videos nehmen sie auch auf. Mike übt schon die große Geste, die Hand zum Herz. Wohin mit den Füßen, das weiß er noch nicht so genau. Ratey schenkt ihm auch sein erstes Keyboard. 2012 schlägt er Mike vor, einen Youtube-Kanal einzuricht­en, so erzählt Ratey. Der Kanal ist noch keine zwei Jahre alt, da hat er eine Million Klicks gesammelt. 2013 nimmt Singer an „The Voice Kids“teil, kommt ein paar Runden weiter.

Bei einem der Videodrehs lernt Mike einen Youtuber kennen. Dessen Manager heißt Ossama el Bourno. Der Kölner hat lange in Immobilien gemacht, ist dann auf Betreuung aufstreben­der Stars umgestiege­n und nimmt später den 15-jährigen Mike unter Vertrag. Kurze Zeit später beenden Ratey und Singer ihre Zusammenar­beit, weil die durch den Vertrag schwierig wird und Ratey das Gefühl hat, nicht mehr der Richtige zu sein. Bald ist nur noch neues Material auf Singers Youtube-Kanal zu finden, Rateys Videos verschwind­en. Auch auf Singers Instagram-Kanal gibt es heute nur noch ein Foto, das vor 2015 gepostet wurde. Die neuen Fotos und Videos in der Optik eines H&MSpots zeigen einen anderen Mike. Cool ist er, nicht tapsig. Steht hochdramat­isch an Gewässern oder auf Gebäuden.

Ratey nimmt Singer die Entwicklun­g nicht übel. Eher klingt er wie jemand, der sich Sorgen macht, ob Singers Entwicklun­g die richtige ist. „Ich hoffe, er hat einen guten Plan für die Zeit danach, wenn seine Fans erwachsen geworden sind – damit es keine harte Landung wird.“

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