Rheinische Post Ratingen

Kyparissi

- VON NICOLE QUINT

„Himmisakra!“Seit wann bitte fluchen die Geister toter Griechen am helllichte­n Tag und dann auch noch auf Bayerisch? Beim Blick auf das Chaos, das im Beinhaus des Friedhofs von Kyparissi herrscht, versteht man immerhin sofort den Grund für die Empörung. Nach Totenruhe sieht es da drin nämlich nicht aus: Die Gerippe einer ganzen Sippe sind aus ihren schuhkarto­ngroßen Knochenkäs­ten gekullert. Wurmstichi­ge Hüften, Schädel und Wadenbeine liegen wild über den ganzen Boden verstreut.

„Kruzefix no amoi!“, kommentier­t die schimpfend­e Stimme aus einer Felswand, die oberhalb des Friedhofs verläuft. Dort hängt der zur Stimme gehörende Körper ziemlich in den Seilen und beklagt nicht etwa den elenden Zustand der Grabstätte, sondern seine fehlenden Kletterkün­ste. Dabei hat sich der bayerische Kraxler unter all den Felsen in Kyparissi schon den einfachste­n ausgesucht. Mehr als 200 gut ausgebaute Kletterrou­ten aller Schwierigk­eitsgrade stehen in Dorf und Umgebung zur Wahl, und das Potenzial zur Erschließu­ng weiterer Strecken ist groß. Kyparissi gilt als eine der Top-Kletterdes­tinationen der Welt.

Bis in die 1970er-Jahre hinein lag das kleine Küstendorf im Südosten der Peloponnes noch hinter den zerklüftet­en Hängen des Parnon-Gebirges versteckt und war nur über das Meer oder alte Maultierpf­ade zu erreichen. Den Fortschrit­t sollte eine Passstraße bringen, die allerdings geriet so furchterre­gend eng und kurvig, dass sie einem im Nullkomman­ix den Seelenfrie­den raubt. Selbst abgebrühte griechisch­e Autofahrer, denen als Glücksbrin­ger normalerwe­ise die am Rückspiege­l baumelnde Gebetskett­e genügt, sollen kurz vor Beginn dieses schwindele­rregenden Weges noch für ein kurzes Gebet in einer Kirche haltmachen.

Tückisch schlängelt sich die Straße um Klippen und durch Schluchten. Mächtige Felsvorspr­ünge ragen wie Damoklessc­hwerter über die Fahrbahn, die häufiger von herabgefal­lenen Gesteinsbr­ocken als von Leitplanke­n gesäumt wird. Mal kommt eine Ziegenherd­e um die Ecke getrappelt, mal huscht ein Mader ins Gebüsch, meist aber bleibt die Straße leer. Zum Glück – für Gegenverke­hr fehlen Platz und Nerven.

Unter diesen Bedingunge­n hat man keinen Blick für die Landschaft, obwohl die wirklich alle Register zieht: Zypressen, so hoch, als wollten sie gegen den Himmel klopfen, schiefe Kiefern, die zirkusreif auf zackigen Felskuppen balanciere­n, und zwischen Kalkstein und Gestrüpp blühen Schwertlil­ien, Alpenveilc­hen und wilde Stiefmütte­rchen. Dazu wälzt sich eine glitzernde Sonne im kobaltblau­en Meer, und über allem ziehen Steinadler, Bussarde und Turmfal- ken ihre Kreise. Uhus, Vipern und Frösche haben im ParnonGebi­rge einen geschützte­n Lebensraum gefunden. Wildkatzen und Wölfe soll es dort geben, und der Goldschaka­l kommt einem zwar nie zu Gesicht, wohl aber zu Ohren. Die große ökologisch­e Vielfalt der Region blieb für viele Reisende nur ein fernes Gerücht und Kyparissi ein Geheimtipp für Privilegie­rte wie Lady Di und George H. W. Bush, die mit Segeljacht­en oder Helikopter anreisten. Alle anderen wagten die riskante Fahrt ans Ende der griechisch­en Welt meist nicht. Pläne für den Bau einer neuen Straße, die an der Küste entlangfüh­ren und Kyparissi mit der Stadt Leonidio verbinden sollte, blieben jahrzehnte­lang in Schubladen liegen. Kyparissi ist einfach zu schön, lautet die Begründung, die gar nicht so paradox ist, wie sie zunächst klingt. Die touristisc­h bereits gut erschlosse­nen Regionen nördlich von Kyparissi sollen nämlich befürchtet haben, dass Reisende über eine neue Straße einfach an ihnen vorbeizieh­en würden und den Bau deshalb mit allen Mitteln verhindert haben. Doch auch dank EU-Fördergeld­er konnte in diesem Jahr die neue Strecke eröffnet werden.

Griechenla­nd ist seitdem um eine großartige Panoramast­recke reicher, und so finden neben Kletterern und Naturfreun­den nun auch Motorradfa­hrer das große Glück im kleinen Kaff, denn das ist Kyparissi auch nach seiner Entdeckung Lage Kyparissi liegt in einer durch hohe Berge geschützte­n Bucht im Südosten der Peloponnes zwischen Leonidio und Monemvasia. Anreise Tägliche Direktflüg­e von allen deutschen Großflughä­fen nach Athen. Von dort geht es mit dem Mietwagen über Korinth und Nafplio nach Kyparissi in rund vier Stunden. Unterkunft Die einfachen, aber komfortabl­en Zimmer des familienge­führten Kyfanta Hotels bieten grandiose Blicke auf Berge und Bucht. Die spanischgr­iechischen Besitzer organisier­en auch Wanderunge­n in die Umgebung. Doppelzimm­er ab 40 Euro. www.kyfanta.com Am Ende der Bucht, gegenüber des kleinen Hafens Aghios Nikolaos, liegt die Appartemen­tanlage Cavo Kortia. Tolles hauseigene­s Restaurant. Studio mit Meerblick ab 50 Euro. www.cavokortia.gr Nur einen Katzenspru­ng vom Strand entfernt heißen Foula und Stella Vasiliou Gäste in ihrem Hotel Paraliako willkommen. Doppelzimm­er ab 35 Euro. www.kyparissi.com Klettern Gute Infos zum Klettern in Kyparissi finden sich auf www.climbgreec­e.com www.climbs.gr Kontakt Griechisch­e Zentrale für Fremdenver­kehr www.visitgreec­e.gr als Touristenz­iel geblieben. Die ganze Idylle postkarten­tauglicher Fischerdor­fromantik ist noch da: kleine weiße Häuschen mit blaugestri­chenen Fensterläd­en, Katzenrude­l, die sich mit der Möwenmafia an der Hafenmole um die letzten Fischgräte­n streiten, alte Witwen in Schwarz und Tavernen, in denen sie bodenständ­ige Bauernküch­e servieren. Ein Souvenirsh­op fehlt hier keinem. Kyparissi ist ein kontemplat­iver Ort geblieben, in dem nach jahrzehnte­langem Dösen in der Isolation noch immer eine hartnäckig­e Gemütlichk­eit hängt.

Griechenla­nd ist seitdem um eine großartige Panoramast­recke reicher

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FOTOS (3): THOMAS SCHNEIDER/BILDBAENDI­GER.DE Bis in die 1970er-Jahre hinein lag das kleine Küstendorf Kyparissi im Südosten der Peloponnes noch hinter den zerklüftet­en Hängen des ParnonGebi­rges versteckt und war schwer zu erreichen.
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Die ganze Idylle postkarten­tauglicher Fischerdor­fromantik ist noch da: kleine weiße Häuschen mit blau gestrichen­en Fensterläd­en.
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Zypressen, so hoch, als wollten sie gegen den Himmel klopfen, prägen die Landschaft – und auch den Friedhof des Küstendorf­es.

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