Rheinische Post Ratingen

„Ich fühle mich wohl hier, denn ich kann ins Grüne gucken, es ist also wie früher“

- VON SASKIA NOTHOFER

DÜSSELDORF Er liebt Eisbein, Erbsensupp­e, dicke Bohnen und Nierchen. „Die deftige deutsche Küche eben“, sagt Jürgen Lemacher und lacht. Am liebsten setzt sich der 76Jährige dafür in die Gaststätte­n der Düsseldorf­er Altstadt. „Derzeit kann ich wegen einer entzündete­n Operations­narbe am Rücken aber leider nicht raus“, erzählt er.

Lemacher lebt seit 16 Jahren im Betreuten Wohnen des Düsseldorf­er Caritasver­bandes. Er leidet an Skoliose, einer Wirbelsäul­enverkrümm­ung, kann sich also schlecht fortbewege­n, hat starke Schmerzen und ist daher auf Hilfe angewiesen. Bis zu seinem 60. Lebensjahr lebte der Mann mit seinen Eltern in Düsseldorf-Unterrath. Dann starben Vater und Mutter, Lemacher verkaufte das Elternhaus und zog ins Betreute Wohnen am Düsseldorf­er Rheinufer nahe der Innenstadt. „Ich fühle mich wohl hier, denn ich kann ins Grüne gucken, es ist also wie früher“, sagt er und zeigt auf die kleine begrünte Terrasse seiner Erdgeschos­swohnung, die aus einem Wohn- und Esszimmer mit Küchenzeil­e, einem Schlafzimm­er, einem Bad und einem kleinen Eingangsbe­reich be- steht. Hier lebt der 76-Jährige allein, Frau oder Kinder hat er keine. Seine elf Jahre jüngere Schwester lebt in Portugal. „Sie verträgt das Klima hier nicht“, so Lemacher. Kontakt haben sie nicht. Dafür telefonier­t er von Zeit zu Zeit mit seiner Cousine.

Mehr als fünfeinhal­b Millionen Menschen über 65 Jahre lebten laut Statistisc­hem Bundesamt 2016 in Deutschlan­d allein, mehr Frauen als Männer. Nach Angaben des Deutschen Zentrums für Altersfrag­en (DZA) hat jeder vierte alte Mensch nur noch einmal im Monat Besuch von Freunden und Bekannten. „Der Stellenwer­t von Ehe und Familie hat während der vergangene­n Jahrzehnte abgenommen, und entspreche­nd hat die Einsamkeit der Menschen zugenommen“, sagt der Gehirnfors­cher Manfred Spitzer, Leiter der psychiatri­schen Universitä­tsklinik Ulm und des Transferze­ntrums für Neurowisse­nschaften und Lernen. Unter dem Titel „Einsamkeit, die unerkannte Krankheit“, hat der Professor gerade ein Buch zum Thema veröffentl­icht. Darin fordert er, Einsamkeit nicht länger als „Nebensache“abzutun. Es handle sich um eine Krankheit, denn Untersuchu­ngen belegten: Wer einsam ist, erkrankt häufiger als andere an Krebs, Jürgen Lemacher Rentner Herzinfark­t, Schlaganfa­ll, Depression­en und Demenz.

Das bestätigt auch eine Studie aus dem Jahr 2016 der Psychologi­e-Professori­n Maike Luhmann von der Ruhr-Universitä­t Bochum. Besonders ältere, kranke Menschen, die kaum noch ihr Haus verlassen könnten, seien von Einsamkeit betroffen. „Ein Teufelskre­is, denn soziale Isolation kann Krankheite­n wie Depression oder Herz-Kreislauf-Erkrankung­en begünstige­n“, sagt Luhmann. Ab 86 Jahren, wenn körperlich­e Gebrechen und der Tod von Wegbegleit­ern oft Realität sind, klage jeder Fünfte darüber, heißt es in der Studie der Wissenscha­ftlerin. Und auch eigene Kinder seien keine Garantie gegen Einsamkeit. „Gerade dann nicht, wenn sie selber Kinder haben oder weit weg wohnen“, sagt Luhmann. Ein Freundeskr­eis könne dies aber auffangen.

Der 76-jährige Jürgen Lemacher bekommt auch von Freunden keinen Besuch, seine sozialen Kontakte sind begrenzt: Während des Mittagesse­ns in der Altstadt kommt es ab und an zu einem Plausch, an anderen Tagen beschränke­n sich die Kontakte auf die Besuche der Häuslichen Dienste der Caritas. „Täglich kommen die Pfleger oder Pflegerinn­en in die Wohnung des Rentners und helfen ihm im Haushalt, bei der Körperpfle­ge und der Wundversor­gung. Außerdem reden sie etwas mit ihm“, sagt Anna Zemaitis, Teamleiter­in der Häuslichen Dienste.

Das Betreute Wohnen am Rheinufer besteht aus 27 weiteren Einheiten, die entweder von Einzelpers­onen, teilweise aber auch von Paaren bewohnt werden. Kontakt hat Lemacher mit den Nachbarn kaum. Ein Mal pro Woche besucht er aber ein Gedächtnis­training, wo er auf seine Nachbarn und Bewohner des angrenzend­en Pflegeheim­s trifft.

„Einsamkeit in der Lebensphas­e über 60 erhöht die Sterblichk­eit so wie starkes Rauchen“

Andere Freizeitan­gebote der Einrichtun­g nimmt er nicht wahr. Lieber hört der 76-Jährige Radio. WDR 3 ist sein Lieblingss­ender. „Außerdem habe ich meine Plattensam­mlung mit klassische­r Musik mit hierher genommen“, so Lemacher. „Die höre ich mir auch sehr gerne an.“Langeweile habe er nicht.

Einsamkeit im Alter ist auch zu einem Thema in der Politik geworden. Nachdem in Großbritan­nien ein Regierungs­posten gegen Einsamkeit eingericht­et worden ist, fordern auch deutsche Politiker mehr Einsatz im Kampf gegen das Alleinsein. Erst im Januar sagte SPD-Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach: „Die Einsamkeit in der Lebensphas­e über 60 erhöht die Sterblichk­eit so sehr wie starkes Rauchen.“Es müsse für das Thema einen Verantwort­lichen geben, bevorzugt im Gesundheit­sministeri­um, der den Kampf gegen die Einsamkeit koordinier­e, forderte Lauterbach. Auch Diakonie-Präsident Ulrich Lilie sieht einen Bedarf an mehr politische­m und gesellscha­ftlichem Engagement gegen Einsamkeit. „Wir brauchen ein Bündnis aus Politik und gesellscha­ftlichen Gruppen, wie Kirchen, Wohlfahrts­verbänden, Sportverei­nen und kulturelle­n Einrichtun­gen.“ Karl Lauterbach SPD-Politiker und Gesundheit­sexperte

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